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Patrik Skantze And The Free Souls Society: Fiction At First View (Review)

Artist:

Patrik Skantze And The Free Souls Society

Patrik Skantze And The Free Souls Society: Fiction At First View
Album:

Fiction At First View

Medium: CD
Stil:

Progressive Rock und ganz viel mehr

Label: Record Heaven / Just For Kicks
Spieldauer: 56:33
Erschienen: 2006
Website: [Link]

Was soll denn man diese Scheiße? Gleich der erste Titel ein „Radio Edit“! Haben die Herren und die Dame um PATRIK SKANTZE den Hang, unbedingt radiotaugliches Zeug zu schreiben und dann noch einen Auszug mit der angenehmen Länge von 2:56 min in den Radio-Charts zu platzieren? Ich gebe zu, dass ich, während mich diese Gedanken bewegten, noch nicht in das Album hineingehört hatte – aber allein die Tatsache, auf diese bedauerliche Weise ein Album zu beginnen, ließ mir alten Prog-Freund sogleich schamvoll die sich langsam ergrauenden Haare zu Berge stehen.

Jawoll, meine Dame, meine Herrn, ich war ab sofort voreingenommen – und wollte es auch bleiben. Also: die Scheibe wird noch nicht angehört, sondern die Suche nach weiteren Fakten für meine Voreingenommenheit beginnt. Darum greife ich sofort (nicht etwa zur CD, sondern) zum Begleitzettel der Plattenfirma Record Heaven … und erschrecke … denn der ist absolut liebevoll und als beidseitiger Farbdruck gestaltet. Das hat man wirklich selten! Irgendwas stimmt hier doch nicht!? Nach dem Überfliegen der ersten Seite erfahre ich, dass die Band aus Schweden kommt (Ohhh, Musik aus Skandinavien, eigentlich mag ich die ja ganz besonders!) und dies ihr 2. Album ist, nachdem sie als Debut bereits ein reines Instrumental-Album, was ihnen sicherlich selbst am schwedischen Radio-Himmel keine Charts-Tauglichkeit bescherte, veröffentlicht hatten. Außerdem darf ich den schönen Satz lesen: „Schwedische Musik steht seit einiger Zeit an der Weltspitze und wir hoffen, dass dieses Album den Trend fortsetzt.“ Was denn nun? Klingt die Band vielleicht wie ABBA? Außerdem sieht der Skantze auf dem Bild auch noch wie Reinhard Fendrich aus, was hat das nur alles zu bedeuten? Meine Vorurteile werden noch stärker! Und dann der Höhepunkt … umhüllt von einer gelben Blase steht auf der Vorder- UND Rückseite der Bandinfo das gleiche Zitat aus dem schwedischen „Groove Magazin“, das ich hier unbedingt in freier Übersetzung wiedergeben muss: „´Fiction At First View´ ist tatsächlich eine ungeheuere, abstrakte Leistung, die in die Reihe solcher Werke wie Pink Floyds ‚Dark Side Of The Moon´ einzuordnen ist … Es ist wirklich selten, dass ein Musiker aus Schweden solche Vielfalt beweist wie Patrik Skantze, sodass wir ihm dankbar dafür sein müssen.“ Harter Tobak, liebe Freunde, und der Vergleich ist absolute Hühner-Kacke – das schon einmal im Voraus!

Damit wären meine Vorurteile perfekt und eins so klar wie Kloßbrühe: dieses Album wird´s verdammt schwer haben, wenn´s erstmal in meinem Player rotiert. Obwohl mich die ganze Zeit ein Satz beschäftigt, den ich ebenfalls dem Begleitschreiben von Record Heaven entnommen habe: „Wir hoffen, dass du in der Lage bist, diese Musik irgendeinem Musik-Genre zuzuordnen… Wir haben es vergeblich versucht und bewegen uns zwischen Pop/Rock, Singer/Songwriter & Artrock/Progressive.“ Mensch, langsam bin ich total verunsichert, traue mich noch gar nicht an die Scheibe heran und entdecke auf der Rückseite des Beipackzettels eine absolut kuriose, von Skantze selbst erzählte Geschichte (oder ist es vielleicht nur eine Anekdote). Angeblich wäre der 1971 geborene Autodidakt, der sich in Punkto Musik stark an Brian May und Ritchie Blackmore orientierte, durch einen außergewöhnlichen Zufall zum Progressiven Rock, zur modernen Klassik (Sibelius) und zum Minimalismus (Philip Glass und Steve Reich) gekommen. Ein Klassenkamerad von ihm hatte nämlich aus einem Kellerverschlag eine Kiste voller LPs geklaut, natürlich in der guten Hoffnung, dass sich darin auch einige Hardrock-Platten verbergen würden. Dem war aber nicht so und darum war dieser Dieb von dem geklauten „Müll“ dermaßen enttäuscht, dass er Skantze das „Zeug“ überließ. Eine verhängnisvolle Entscheidung, denn genau dieser Kram war es dann, der aus Skantze einen „neuen“ Musiker machte, dessen Entwicklung in die bereits oben genannten Musikrichtungen ging. Meine Neugier kennt nun wirklich keine Grenzen mehr und es ist allerhöchste Zeit, endlich auch mal die CD zu hören und den Versuch zu unternehmen, der Plattenfirma bei der Genre-Einordnung von SKANTZE und der Gesellschaft der freien Seelen zu helfen.

So viel schon vorweg: das Album ist wirklich hörenswert, unglaublich abwechslungsreich (Einige werden bestimmt behaupten zu abwechslungsreich!) und tatsächlich Genre-übergreifend, was natürlich die Toleranz beim Hörer voraussetzt, sich auch auf Stilistiken einzulassen, die er gewöhnlich nicht allzu oft hört.

Den ersten Titel überspringen wir – er ist ein Witz, also nichts Anderes als die für´s Radio zusammengekürzte Version des letzten CD-Titels „Fiction At First View“. „Live Provider“ ist da schon erheblich spannender, denn er wartet mit an Beatles erinnernden Klängen sowie sehr gutem Gesang auf, welche aber plötzlich eine Wendung in Richtung frühes Electric Light Orchestra erfahren. Titel 3, ein hervorragendes Instrumental, erinnert dann plötzlich an die Werke von Anthony Phillips oder Renaissance während ihrer „Ashes Are Burning“-Phase. Dieser „kleine Klassiker“ wird von einer sehr kurzen, atmosphärischen, etwas weinerlich vorgetragenen Ballade abgelöst, die wohl mehr als eine Art Übergang zum ersten Longtrack „Gleam Of Hope“ zu verstehen ist. Nach dem Instrumental ist dies der zweite absolute Höhepunkt des Albums, denn nach den ersten zwei Minuten gewinnt man den Eindruck, dass man es mit einem Neil-Young-Titel aus der „Harvest“-Zeit zu tun hätte … nur Skantze ist für viele Überraschungen gut. Und mit einem Mal wird aus den youngschen Klängen ein klassisches Folk-Prog-Kunstwerk in bester Mostly-Autumn-Manier!

So wenige Titel und schon so viele Vergleiche. Das ist wirklich unglaublich, aber es kommt noch mehr an das Licht der musikalischen Freigeister. Mit „My Dreams Of Late“ bieten Eva Björkner und Patrik Skantze ein von akustischer Gitarre und faszinierendem Cello-Spiel begleitetes sangliches Duett mit Gänsehautgarantie. Das liegt sicherlich auch daran, dass der Hörer sich anfangs atmosphärisch an Sigur Ros erinnert fühlt, dann aber in die Traurigkeit des Liedermachers Nick Drake, den Skantze als eins seiner musikalischen Vorbilder (natürlich neben Neil Young) angibt, hineingezogen wird. „Genug getrauert“ wird sich Skantze danach gedacht haben und schiebt sofort mit „The Plunge“ den zweiten Longtrack nach. Hier geht´s mit dynamischen, fast bombastischen Rock härter zur Sache, wobei aber auch dominantes Flötenspiel und sogar ein Schlagzeugsolo erklingen. Bei diesem Titel fühlte ich mich unweigerlich an meine DDR-Vergangenheit erinnert, als ich mit viel Glück und nach langem Anstehen im ungarischen Kulturzentrum in Ost-Berlin die „Mars Chroniken“ von SOLARIS wortwörtlich „erstanden“ hatte. Ein toller Titel und weiterer Höhepunkt der CD. Titel 8 und 9 lassen es wiederum deutlich ruhiger angehen. Erst gibt es eine mit elektronischen Spielereien verfremdete, größtenteils aber akustische Ballade mit Bezügen zu Nick Drake, Patrick Wolf oder Syd Matters zu hören, während ein Instrumental, das an zwei Steves erinnert, nämlich Howe & Hackett, den letzten, dem Album seinen Titel gebenden Song einleitet. Und hier macht sich endlich auch das lang erwartete Mike-Oldfield-Gefühl breit, das man bei einem autodidaktischen Multiinstrumentalisten irgendwann unweigerlich erwartet. Allerdings meine ich den Oldfield aus der QE2-Zeit, etwas poppig, mit zartem Gesang und eingängigen Melodie-Bögen.

Allerdings bewegt mich die ganze Zeit die Frage, welchen Schwachsinn dieses schwedische Musik-Magazin mit seinem Pink-Floyd-Vergleich verzapft hat, als es dieses musikalisch gänzlich andere Album auf eine Stufe mit „Dark Side Of The Moon“ stellen wollte.

FAZIT: „Fiction At First View“ ist ein Album, welches einen sehr toleranten Musikhörer voraussetzt, der sich in vielen Musikstilen zuhause fühlt und sich nicht zwangsweise nur auf die progressive Rockmusik festlegt. Wer ruhige Klänge und schöne, nicht kitschige Melodien genauso liebt wie progressive und komplexere Musik zwischen den BEATLES, NICK DRAKE, NEIL YOUNG, MOSTLY AUTUMN und SOLARIS würde garantiert ein echtes Musikerlebnis verpassen, wenn er diese CD des schwedischen Multiinstrumentalisten unbeachtet lässt.

Thoralf Koß - Chefredakteur (Info) (Review 3886x gelesen, veröffentlicht am )

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Tracklist:
  • Fiction At First View (Radio Edit)
  • Life Provider
  • A New Morning In-Sight
  • Strange Days
  • Gleam Of Hope
  • My Dreams Of Late
  • The Plunge
  • Craving For Knowledge
  • Appease
  • Fiction At First View

Besetzung:

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