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John Mellencamp: Orpheus Descending – Vinyl-Ausgabe (Review)

Artist:

John Mellencamp

John Mellencamp: Orpheus Descending – Vinyl-Ausgabe
Album:

Orpheus Descending – Vinyl-Ausgabe

Medium: LP
Stil:

Singer/Songwriter, Folk, Rock

Label: Republic Records/Universal Music
Spieldauer: 49:05
Erschienen: 21.07.2023
Website: [Link]

„Nur in Amerika, und ich meine nur in Amerika, können 21 Menschen ermordet und eine Woche später begraben und vergessen werden, während auf den Schreibtischen der Senatoren ein schwaches kleines Miniaturbild, eine vage Vorstellung von einer Art Waffenkontrollgesetz, liegt. Was für Menschen sind wir, die behaupten, dass uns der Schutz des Lebens am Herzen liegt? Nur damit Sie es wissen, jeder, der das liest ... Politiker scheren sich einen Dreck um Sie, sie scheren sich einen Dreck um mich und sie scheren sich einen Dreck um unsere Kinder. Also, mit diesem freudigen Gedanken im Hinterkopf, wünschen wir Ihnen einen schönen Sommer, denn es wird nur noch kurze Zeit dauern, bis es wieder passiert.“ (JOHN MELLENCAMPs Botschaft auf der Startseite seiner Homepage, die ihm in weiten Kreisen Amerikas nicht sonderlich viel Freunde und seiner letzten LP wohl auch einen Warnsticker wegen 'gefährlicher Texte' einbrachte!)

Lange Zeit musste man warten, um endlich auch die Vinyl-Ausgabe von JOHN MELLENCAMPs „Orpheus Descending“ in den Händen zu halten und auf seinem Plattenteller drehen zu lassen. Und dann pappt auf der zart gestalteten Frontseite der LP auch noch ein 'Parental Advisory – Explicit Content'-Sticker, der zum Glück nur auf der Kunststoff-Verschweißung klebt und beim Öffnen im Nirvana des warnenden Schwachsinns vor den Texten eines Mellencamps verschwindet. Denn das Cover-Bild stammt ebenfalls aus dem Hause Mellencamp – von seinem Sohn Speck Mellencamp – und sollte auf keinen Fall mit solch einer Schwarz-Weiß-Warnung versaut werden. Nur in Zeiten, in denen zwar nachweislich massenhaft Kinder von religiösen Würdenträgern missbraucht und in deren Namen auch Waffen gesegnet werden, darf das alles ohne Warn-Sticker auf den Gotteshäusern geschehen, dafür aber muss so eine jugendgefährdende Warnung auf eine Platte, die sich gleich mit dem Album-Opener „Hey God“ und später „Amen“ über das religiöse Trugbild hinter und unter dessen Namen man so viel Unheil anrichtet, hermacht und eindeutig klarstellt: Hey Gott, wenn es dich wirklich geben sollte, dann lass dich hier endlich auf der Erde blicken!“

Welch Frevel! Welch Blasphemie! Davor muss gewarnt werden – denn nicht nur mit diesem das Album eröffnenden Song gibt sich Mellencamp mit seiner gotteslästernden Haltung zufrieden. Nein auf „Amen“ wird er genauso deutlich und selbst das gesamte Thema hinter dem Album „Orpheus Descending“ verfolgt die kritische Auseinandersetzung mit göttlicher Größe und Allmacht, die all das Zerstörerische und Unmenschliche auf dieser Erde zulässt.

Mit der nunmehr stimmlichen Rauheit eines TOM WAITS trägt Mellencamp seine einerseits mitunter hochexplosiven und andererseits hochpoetischen Texte vor. Das passt bestens, auch wenn es ein wenig verunsichert, denn nach den frühen Zeiten, als zwischen seinem Vor- und Nachnamen noch ein 'Cougar' stand…

...oder er sich ausschließlich auf seinen Nachnamen beschränkte, klingt diese Stimme kaum noch.

Wenn man heutzutage authentisch auf einen JOHN – ohne Cougar – MELLENCAMP setzt, dann sollte man sich (nicht nur aus Retro-Gründen) auch für diese LP – statt der bereits von Kollegen Werner Herpell besprochenen CD – entscheiden. Allein das Gefühl, diese großformatige Scheibe mit dem kleineren Kunstwerk als Cover in den Händen zu halten, dann die mit allen Texten bedruckte LP-Innenhülle herauszuholen und die rabenschwarze LP auf seinen Plattenteller zu legen, um daraufhin den 'echten Vinyl-Sound' zu genießen, sind dies allemal wert. Noch dazu begeistert speziell die zweite LP-Seite, die um Längen melancholischer als die erste ausgefallen ist – und deutlich nach einer Kombination aus atmosphärischen Springsteen-Waits-Dylan-Songs klingt. Denn gerade bei den ruhigeren Titeln kann man hervorragend auch mit der knarzig-brüchigen Mellencamp-Stimme leben, der längst die klaren und hohen Stimmlagen abhanden gekommen sind – und selbst wenn die von Springsteen komponierte „Perfekte Welt“ traurig mit einer weniger perfekten Stimme besungen wird, geht das völlig klar, auch weil einen dabei Orgel und Mundharmonika mit wunderschönen Melodien umgarnen. Erinnerungen an Springsteens „The River“-Album werden hierbei ganz schnell geweckt: „The passing days absolve all our sins / In the cool of the evening the loosing team wins… In a perfect world.“

Natürlich ist dies keine perfekte Platte, aber eine beeindruckende, ehrliche, herrlich kompromisslose und völlig aus der Zeit gefallene. Eine, die uns auf der Plattenrückseite die Geschichte von Orpheus, dem Sänger und Dichter der griechischen Mythologie (der die Unterwelt betrat, um unter Einsatz seines Gesangs und Lyra-Spiels seine getötete Frau Eurydike ins Leben zurückzuholen) näher bringt – und damit wohl auch die Geschichte von JOHN MELLENCAMP meint. Ganz ähnlich entwickelte auch NICK CAVE bereits 2004 seine Leidenschaft für den dichtenden Sänger, dem die Griechen die Erfindung der Musik sowie des Tanzes zuschrieben und der zusätzlich mit seinem Lyra-Spiel alle, die ihm zuhörten, verzauberte. So wurde seine Lyra auch als Sternbild an den Himmel versetzt und in Caves Album „The Lyre Of Orpheus" verewigt, während sich Mellencamp mit diesem Album dessen Abstieg in die Unterwelt widmet – eine Unterwelt, die dem amerikanischen Dasein aus mellencampscher Sicht sehr ähnlich zu sein scheint.
Ein wahrhaft starker Symbolismus für ein Land, in dem ein alter, nicht immer bei klarem Verstand seiender, aktuell regierender Greis gegen einen verrückten, gefährlichen alten Sack in der Wahl um die nächste Präsidentschaft anzutreten scheint.
Schön, dass sich unter diesen Bedingungen ein JOHN MELLENCAMP wieder zu Wort meldet, denn er hat auf „Orpheus Descending“ viel zu sagen und singen – so brüchig seine Stimme dabei auch manchmal klingen mag.

FAZIT: Auf „Orpheus Descending – Vinyl-Ausgabe“ musste man zwar nach der bereits Mitte Juni als DL- und Ende Juni als CD-Veröffentlichung erschienenen Version noch gut drei bzw. fünf Wochen warten, doch das Warten hat sich für alle Vinyl-Freunde und Retro-Genießer gelohnt. Schön gestaltet mit einem Kunstwerk seines Sohnes und der mit allen Texten sowie der Orpheus-Geschichte bedruckten Innenhülle bzw. LP-Rückseite präsentiert sich dieses JOHN MELLENCAMP-Spätwerk (außerdem mit einem unverschämt anmutenden 'Parental Advisory'-Sticker) als ein göttlich-hintergründiges und zugleich extrem religions- und amerikakritisches Album, das den Abstieg von Orpheus in das Totenreich – den Hades – symbolisch mit den aktuellen Vorgängen der amerikanischen Mellencamp-Heimat vergleicht. Vorgetragen mit oft brüchiger, aber umso aussagekräftigerer Stimme gelingt es Mellencamp, die Tradition eines Springsteen, Waits oder Dylan auf seine Weise überzeugend fortzusetzen.

Thoralf Koß - Chefredakteur (Info) (Review 1590x gelesen, veröffentlicht am )

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Wertung: 11 von 15 Punkten [?]
11 Punkte
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Tracklist:
  • Seite A (26:00):
  • Hey God
  • The Eyes Of Portland
  • The So-Called Free
  • The Kindness Of Lovers
  • Amen
  • Orpheus Descending
  • Seite B (23:05):
  • Understated Reverence
  • One More Trick
  • Lightning And Luck
  • Perfect World
  • Backbone

Besetzung:

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  • keine Interviews
Kommentare
Werner Herpell
gepostet am: 22.07.2023

Was für eine inhaltlich starke, kompetente, mit Recht politisch aufgeladene und empörte Kritik zu diesem Album - die perfekte Ergänzung zu meiner CD-Rezension, lieber Thoralf Koss!
(-1 bedeutet, ich gebe keine Wertung ab)
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