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Interview mit Devin Townsend (06.02.2017)
Wir schnappten uns DEVIN TOWNSEND auf Tournee mit seinem PROJECT im Vorfeld des Auftritts in der Luxemburger Rockhal und plauderten über den aktuellen Stand der Dinge, wobei es auch um Musik ging, kaum zu glauben ... (Foto: Rebecca Blissett)
Zweites Konzert der Tournee - wie läuft es?
Noch beschwerlich. Du wirst aus deinem Familienleben gerissen, in dem du die Garage aufgeräumt und dich um dein Kind gekümmert hast. Bei unserer ersten Show in Belgien war es ungeheuer laut, und ich habe verlernt, was einen guten Frontmann ausmacht. Ich stand auf der Bühne und fragte mich: Wie packst du das jetzt an? Musik spielen und ein Entertainer sein, das sind zwei sehr verschiedene Paar Schuhe, obwohl ich beides will; mein Publikum glücklich zu machen liegt mir am Herzen, aber ich stand zunächst nur dumm am Mikro. Während der zweiten Hälfte des Auftritts war ich dann so selbstkritisch, dass ich die Kluft zwischen den Fans und mir noch zusätzlich vergrößerte. Das ist wahrscheinlich nur wenigen aufgefallen, und auch wenn es nichts an dem Gig zu beanstanden gab, kenne ich sehr wohl den Unterschied zwischen einem nur guten und einem großartigen Konzert. Gestern hatten wir einen freien Tag, da konnte ich mir Gedanken darüber machen. Nach ein paar Tagen ist es dann wieder so wie Fahrradfahren, wohingegen mir diese Performance so vorkam, als würde ich im fünften Gang auf einer Schnellstraße entlang brettern und dann auf einmal versehentlich den Rückwärtsgang einlegen - ein Ruck geht durch den Wagen, und schlussendlich fährt die Mühle zwar in die andere Richtung, aber dieser eine Moment, in dem man nicht weiß, was geschieht, ist unangenehm.
Du hast im Augenblick aber auch viel um die Ohren; demnächst probt ihr quasi anlässlich eines Auftritts in London die Aufführung der kompletten "Ocean Machine"-Scheibe im bulgarischen Plovdiv im Herbst.
Die Idee rührte von der Sinfonie her, die ich geschrieben habe. Vor drei Monaten karrten wir ein Orchester nach Vancouver, mit dem wir einen Monat arbeiteten, wobei mir schnell bewusst wurde, dass ich am besten funktioniere, wenn ich nichts überstürze. Zweitens wird das Album jetzt 20 Jahre alt, und so lange ich mich damit beschäftige, stehe ich nicht unter dem Zwang, eine weitere Platte fürs Devin Townsend Project zusammenzustellen. Dadurch wiederum kann ich die Klassik-Sache umso sorgfältiger angehen, und nächstes Jahr stehen sogar Veranstaltungen zur Feier von zwei Jahrzehnten "Infinity" in Aussicht, übernächstes dann "Physicist", et cetera. Mich dem Vorsatz zu widmen, diese Jubiläumskonzerte zu beispiellosen Events für meine Hörer zu machen, ist die beste Lösung für mich. Ehrlich gesagt habe ich in den letzten paar Jahren zu viel veröffentlicht; die Alben kamen ja Schlag auf Schlag. "Casualties Of Cool" entstand im Laufe vierer Jahre, und das so zwanglos tun zu dürfen begeisterte mich. Auf mir lastete keinerlei Erwartungsdruck, und dementsprechend leicht ging mir diese Musik auch von der Hand. Jetzt bin ich froh, in der außerordentlichen Lage zu sein, aus solchen "20-Jahre"-Geschichten Kraft und Zeit zu schöpfen sowie Kapital zu schlagen, das dann wieder in andere Projekte fließt.
Was fühlst du, wenn du dich wieder mit diesen Alben befasst, mit denen gemischte Gefühle verbunden sind, wie du in deinem Buch "Only Half There" deutlich machst?
Alt (lacht). Im Ernst, das ist schon okay. Wenn ich eine Platte fertiggestellt habe, ist das gewissermaßen so, als ob ich etwas ausgekotzt hätte, aber ich fürchte mich nicht davor, auf sie zurückgekommen. Dabei stellte ich im Fall von "Ocean Machine" fest, dass es die Weichen für meine Zukunft stellte; es ist quasi eine Blaupause für alles weitere, aber mich verblüfft auch, womit ich damals davonkam. Manches, was man darauf hört, würde heute nicht mehr genügen. Es handelte sich um eine völlig rudimentäre dessen, was ich heute mache. Allein dadurch, dass ich einfach einen Echo-Effekt über die Gitarren legte, kamen vier Songs zustande, also lediglich aufgrund dieses Sounds. Das würde jetzt niemanden mehr hinterm Ofen hervorlocken, wohingegen es damals kaum etwas Vergleichbares gab. Mittlerweile klingen viele Bands so wie ich damals. Vor diesem Hintergrund fand ich es interessant, mir vor Augen zu halten, wie ich mich davon ausgehend weiterentwickelt und zu einer eigenen Klangästhetik gefunden habe. Das Album gewann seine Stärke auch daraus, dass die Zeit damals sehr naiv war. Nun würde ich mich langweilen, wieder so etwas zu fabrizieren - ganz davon abgesehen, dass ich mich von Dingen anregen oder sogar leidenschaftlich mitreißen ließ, die mir heute nichts mehr geben oder in der Öffentlichkeit unglaubwürdig wirken würden, beispielsweise solche "Junge trifft Mädchen"-Geschichten. "Junge hat Sohn und ist jetzt 44" passt da schon besser.
Na ja, verglichen mit vielen anderen Alben beliebiger Künstler ist dieses eine zeitlos geblieben.
Das liegt vielleicht daran, dass ich im Grunde nichts anders gemacht habe als jetzt, bloß dass mein Input ein anderer war. Meine aktuelle Lebenssituation beeinflusst mich schlichtweg auf eine gänzlich unterschiedliche Art als jene des 19-jährigen Devin, der diese Musik damals machte. In Nostalgie zu schwelgen und auf Vergangenes zurückzuzufallen, um sich der Gegenwart nicht stellen zu müssen, ist eine verführerische Vorstellung, aber ich bin weder AC/DC noch Slayer, das würde mir kein Schwein abkaufen.
Du sagst, Musik stehe am Ende eines Handlungsablaufs und sei nicht dieser Vorgang selbst.
Man kann es mit folgender Situation vergleichen: Du läufst durch ein Feld voller Scheiße, die zu den Seiten wegspritzt und irgendwo hängenbleibt, woraufhin sie hart wird und eine feste Form annimmt. Das wäre dann ein Album, und am Ende des Feld wartet … keine Ahnung - der Tod auf dich. Man muss als Mensch wachsen, um ausdrücken zu können, was man überhaupt möchte. Mancher mag sagen: "Ich hab diesen Scheiß jetzt lange genug mitgemacht und will Geld, denn das gibt mir Sicherheit", oder "Ich habe ein sehr niedriges Selbstbewusstsein, weshalb ich die Anerkennung Fremder, den Ruhm brauche." Ich versuche lediglich, meiner Ängste und Unsicherheiten Herr zu werden, um mich dem Alltag, so wie er sich stetig wandelt, stellen zu können.
Einerseits ist die Musik also eine Erweiterung deiner Persönlichkeit, andererseits musst du dabei wirtschaftlich denken; wie begehst du diesen Spagat?
Ich denke, dabei zahlen sich Fähigkeiten zur Teamarbeit aus. Ich bin ein ungeheuer schlechter Geschäftsmann, weil ich mir keine großen Gedanken über Geld mache und auch kein Gespür fürs Finanzielle habe. Darum schare ich, was das angeht, Fachleute um mich, und wenn die mir nahelegen, eine solche Sinfonie zu komponieren sei sinnvoll, ist der weitere Weg klar. Dann bin ich gut darin, Ratschläge und Anweisungen zu befolgen. "Du musst jetzt wieder auf Tournee gehen." - "Prima." "Schreib dieses Buch, Mann, mach diesen Musikunterricht für die Fans im Internet." - "Kein Problem." Von der Notwendigkeit, meine Band und das ganze Drumherum zu bezahlen, wollen wir gar nicht erst reden … Ohne das alles delegieren zu können, wäre ich verloren.
Hast du das Gefühl, der erwähnte Druck nehme weiter zu?
Einerseits nein, andererseits ja. Was ich tue, ist eben nicht sonderlich mehrheitsfähig, weshalb ich gezwungen bin, in allen Belangen mehr zu arbeiten, zumal ich mir ja auch ständig himmelhaushohe Ziele setze. Fertig werde ich damit, indem ich Sport treibe, generell Disziplin wahre oder meditiere. Die Frage lautet also weniger: "Wächst der Druck?" - das tut er sowieso bei uns allen -, sondern eher: "Wie gehe ich damit um, wie reagiere ich darauf?"
Kannst du absehen, dass das Ende der Fahnenstange irgendwann einmal erreicht ist?
Das geschieht bestimmt, aber nicht in naher Zukunft. Wenn ich ausnahmsweise innehalte, beschönige ich die Vorstellung von einer Auszeit mit Sprüchen wie: "Ach, ich will nichts weiter, als Bass in einer Country-Band zu spielen", aber dann kommt wieder der Drang, hinauszugehen und auf die Bretter zu steigen. Ich habe in den vergangenen paar Jahren etwas gelernt, wofür es ein treffendes Zitat gibt, dessen Urheber mir gerade nicht einfällt. Sich mit den Sätzen anderer zu schmücken ist zwar schwülstig, aber dieser passt einfach perfekt zu meiner Einstellung: "Wenn ein Fischkutter im Hafen vor Anker liegt, kann er nicht kentern, doch das ist nicht der Zweck, zu dem er gebaut wurde."
Du hast deinen Online-Unterricht angesprochen; eine Unterrichtseinheit behandelt den Umgang mit und die Anerkennung der eigenen Beschränktheit.
Ich bin alt genug und kenne mich einigermaßen, sodass ich weiß, was mir guttut und was nicht. Alkohol und andere Drogen sind ein gutes Beispiel; der Konsum wirkt sich negativ auf mein kreatives Schaffen aus, also lasse ich die Finger davon. Andere Menschen können Shit rauchen oder saufen und dennoch einem normalen Leben nachgehen, ich nicht. Wenn du erkennst, dass mit dir etwas im Argen liegt oder persönliche Fragen offenstehen, muss du das klären, um weiterzukommen. Dabei stellt sich nicht umsonst ein befreiendes Gefühl ein, denn du musst nicht dies und das verdammen, weißt aber, dass es für dich selbst nicht funktioniert, und kannst kluge Entscheidungen treffen, weil sich mehrere Handlungsmöglichkeiten von vornherein ausschließen lassen. Ich war jahrelang Vegetarier, ehe ich wieder Fleisch anfing, Fleisch zu essen, nachdem ich den Verzicht hinterfragt hatte: "Was macht Leben aus? Empfinden Pflanzen nicht auch Schmerzen?" Bis ich diesbezüglich für mich persönlich zu einer Antwort gelangt bin oder mir einfach nicht mehr danach ist, tue ich mir keinen Zwang an.
Also läuft es generell darauf hinaus, keinen vorgefertigten Meinungen aufzusitzen und rigiden Regeln oder Dogmen abzuschwören?
Genau. Wir alle entwickeln im Laufe der Zeit eine gewisse Voreingenommenheit gegenüber diesem und jenem, die man ja auch bis zu einem bestimmten Grad braucht, um sich zurechtzufinden. Ich vermute, dass ich - um auf das Beispiel von gerade eben zurückzukommen - am Ende doch wieder Vegetarier sein werde, dann aber aus voller Überzeugung statt verunsichert wie bisher.
Für mich ist ohnehin unverständlich, wie gerade tourende Musiker, die viel von der Welt sehen, ein ausgeprägtes Scheuklappendenken an den Tag legen können.
Darum hüte ich mich auch davor, mich zu politischen, religiösen oder allgemein spirituellen Dingen zu äußern. Während der vielen Reisen gewinnt man Einsichten, aber jeder Mensch muss seine eigenen Erfahrungen machen und die Wahrheit für sich selbst finden, wovor sich viele nicht zu Unrecht scheuen, weil es beängstigend ist; immerhin muss man sich dabei selbst konfrontieren.
Teilnehmern an deinem Kurs bringst du außerdem bei, sich im Rahmen ihrer kreativen Ausdrucksmöglichkeiten verletzlich zu zeigen. Wie tief sollte man blicken lassen? In deinem Buch hast zu die Hosen ja ziemlich weit heruntergelassen …
So tief, dass man sich nicht unwohl dabei fühlt. Wir alle haben, glaube ich, eine gemeinsame Furcht - die vor dem Unbekannten, was üblicherweise auf den Tod hinausläuft. Man sollte sich so weit öffnen, wie man dazu stehen kann, und die Konsequenzen dessen bedenken.
Was hast du beim Schreiben des Buchs gelernt?
Dass das eigene Leben mit seinen vielen Hochs und Tiefs nicht so bedeutsam ist, wie es einem vorkommt. Hast du erst einmal alles Schwarz auf Weiß dastehen, ist es nichts Besonderes mehr. Der Einzelne ist unheimlich belanglos in Hinblick aufs große Ganze.
Verantwortung war ein wichtiges Stichwort, das sich vor allem durch die späten Kapitel zog.
Ja, und auch hierbei hängt es wieder davon ab, wie viel du schlucken kannst, bis es unerträglich wird. Es gibt Leute, die kein Problem damit haben, auf Tour herumzuhuren und dergleichen, aber ich könnte das nicht. Ich wäre außerstande, es langfristig zu verarbeiten. Ich würde deshalb auch keine Musik herausbringen, die nicht meinem Wesen entspricht und bei der ich befürchten müsste, dass sie Hörer zu Taten anregt, hinter denen ich nicht stehen könnte.
Steckt dahinter immer noch ein jugendlicher Wunsch, die Welt zu verbessern?
Er ist nicht mehr so groß wie früher (lacht). Ich glaube, man muss bei sich selbst anfangen: Mach das Beste aus dir und deiner Umgebung. Sollte das jemanden beflügeln, es dir gleichzutun, hast du schon viel erreicht. Mehr darf man nicht erwarten. Die Welt aus den Angeln heben zu können ist eine vermessene Vorstellung. Wir müssen unser Leben so gestalten, wie es uns guttut, und uns mit dementsprechenden Menschen umgeben; alles weitere geschieht von selbst.
Gutes Stichwort: Die Musiker, mit denen du dich nicht erst seit gestern umgibt, haben sich stärker denn je auf deinem aktuellen Album "Transcendence" eingebracht.
Ja, und das möchte ich in Zukunft noch weiter ausbauen, weil ich mich mit der Zeit selbst langweilig finde. Früher war ich von mir fasziniert, heute nerve ich mich. Bis auf einen Song habe ich alles allein komponiert, danach aber Aufgaben verteilt, so nach dem Motto: "Nimm das mal und mach etwas Spannendes daraus, ich kann nicht die Geduld aufbringen, mir ein Solo auszudenken." Dadurch wurde die Musik umso besser, und ich ging kein Risiko ein, weil wir einander vertrauen. Ich hoffe, dass ich ein gerechter Arbeitgeber bin, und schenke der Band zum Dank für ihre Leistung mehr Freiheiten. Das ist das Mindeste, was ich tun kann.
Zum Abschluss noch einmal Casualties Of Cool - irgendetwas geplant?
Ja, tatsächlich ein paar Konzerte in Deutschland, unter anderem in Markneukirchen bei meinem Gitarren-Endorser Framus. Ich liebe dieses Projekt, auch wenn es nicht das Einfachste ist, weil wir uns emotional so tief fallenlassen. Darin steckt gehöriges Potenzial, aber zuerst muss die Sinfonie fertiggestellt werden, ehe elf Monate auf Tournee anstehen, und ich brauche wohl auch mal Urlaub …
- Devin Townsend - Infinity (1998)
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