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Chandelier: Pure (Review)
Artist: | Chandelier |
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Album: | Pure |
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Medium: | Do-CD | |
Stil: | Progressive Rock |
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Label: | GAD Records | |
Spieldauer: | 111:39 | |
Erschienen: | 01.02.2019 | |
Website: | [Link] |
Kurze Rückblende...
...oder doch eine etwas längere Rückblende.
Ein Land steht Kopf.
Nichts ist so, wie es einst war – es gibt Sieger, es gibt Verlierer, es gibt eine offene Mauer, die noch einen Tag zuvor, am 8. November 1989, unüberwindlich schien, es gibt zwei Staaten, in denen zwar die Sprache die gleiche ist, die Bürger sich aber trotzdem nicht zu verstehen scheinen und es gibt eine Konstante in den Wirren der Zeit: die Musik, aber auch die schwankt zwischen oberflächlicher Mainstream-Scheiße und tiefgründiger Meisterleistung!
Und es gibt CHANDELIER – eine Vor-Mauerfall-Kassette mit dem Titel „Fragments“ von ihnen, die irgendwie nach den Brechen der Mauerspechte klingt, die sie nunmehr ohne erschossen zu werden in das plötzlich löchrige Mauerwerk des Unrechts hämmern dürfen, und ein Nach-Mauerfall-Album, das genau nach dem klingt, was die euphorisierten, sich gerade befreiten Freiluftgefängnisinsassen der DDR nach ihren ersten Begeisterungsstürmen erwartet: „Pure“.
Längst scheinen die deutschen, ambitionierten Prog-Rocker wohl in Vergessenheit geraten zu sein – so wie anscheinend auch die Euphorie des Mauerfalls – doch das ist einfach zu ungerecht. Warum gerät in dieser immer oberflächlicher werdenden Zeit das Besondere, Erinnerungswerte, Außergewöhnliche eigentlich immer mehr in Vergessenheit?
Das fragen sich viele, denen noch dieses seltsame Ost-Gefühl innewohnt und die nicht immer nur in den Westen schauen, so als würde dort eine immerwährende Weisheit mit dem Anspruch auf ewige Rechtsgültigkeit liegen. Und damit sind wir bei einem Ost-Label – bitte nicht mit ostdeutschem verwechseln – das sich den Blick für gute, anspruchsvolle, unterhaltenswerte, progressive Musik bewahrt, die von SBB, MECH, DZAMBLE oder JAZZ Q kommt. Und mittendrin bei diesem polnischen (!!!) Label GAD nun CHANDELIER mit ihrer Musik, die nicht in Vergessenheit geraten sollte, darf, wird! Dabei waren die fünf Jungs, die mit ihrer Vision von erfolgreichem Prog anno der Früh-90iger doch um Jahre zu spät kamen, nur von 1986 bis 1998 aktiv, dann breitete sich der Mantel musikalisch-kollektiven Mainstream-Schweigens nach drei Alben und einer Kassette über sie aus.
Unfassbar, denn IQ, JADIS, MARILLION und PENDRAGON oder ARENA waren genau in dieser Zeit doch auch erfolgreich. War es etwa ein Fluch, deutsch und progressiv zu sein, wo gerade alles (Ost)Deutsche infrage gestellt wurde? Ein Blick anno 2019 zurück auf diese Zeit und CHANDELIER mit ihrem charismatischen Sänger MARTIN EDEN, dem ein Stimmband von FISH und ein weiteres von PETER NICHOLLS eingepflanzt zu sein schien, macht einem bewusst, wie unsinnig es war, sich statt den Propheten im eigenen Lande ausschließlich den Prog-Predigern der weiten Welt zuzuwenden. Und so ist es die polnische Liebe zur progressiven Musik, die uns CHANDELIER, ihre drei Alben und dazu jeweils eine Bonus-CD mit unglaublich wertvollen neuen, zusätzlichen Archiv-Aufnahmen, die noch dazu von dem ganz großen Remaster-Meister aus dem Hause GROBSCHNITT – EROC – remastert wurden, wieder in Erinnerung bringt.
Viel Liebe steckt auch in dem 24seitigen Booklet mit der Band-Geschichte (in englischer und polnischer Sprache) und allen Texten sowie rare Fotos aus den Archiven der Bandmitglieder.
Auch wenn sich die westdeutschen Jungs – warum auch immer – „Kronleuchter“ nennen … Armleuchter aus musikalischer Sicht sind sie garantiert nicht, sondern vielmehr ein Leuchtturm in den frühen 90ern deutscher progressiver Rockmusik, die neben ANYONE‘S DAUGHTER oder GROBSCHNITT und JANE oder NEKTAR und selbst ELOY, auch wenn die deutlich mehr auf der PINK FLOYD-Welle surfen, in einem Atemzug genannt werden sollten.
Angetrieben von der Hoffnung, auch über die Neusser und Düsseldorfer Grenzen hinweg wahrgenommen zu werden – in Zeiten, in denen das Internet noch ein Fremdwort statt ein allgegenwärtiger Suchtfaktor war – versuchen CHANDELIER anfangs mit ihrer 60 Minuten langen Kassette „Fragments“, die mit einem dem Bolero sehr ähnlichen Rhythmus beginnt, 1988 ihre neoprogressive, deutlich im Umfeld von MARILLION angesiedelte Musik, ein breiteres Publikum zu finden. Eine echte Rarität ist sie heute – diese Kassette. Und natürlich war sie, typisch wie für jedes Magnettonband, ziemlich verrauscht. Jetzt aber ist sie als die große Herausforderung für EROC als zweite CD auf „Pure“ enthalten und ein echtes musikalisches – und nun auch klangliches – Goldstück. Eigentlich hätte dieses Album auch ganz für sich stehen können – als Bonus zu „Pure“ aber ist es eine kleine Sensation!
Obwohl CHANDELIER mit „Fragments“ den Wünschen der Musikindustrie entgegengekommen waren und mehr auf den Mainstream setzten, waren sie doch bereits viel zu progressiv. Schon allein der 16-Minüter „Glimpse Of Home“ erzählt seine ganz eigene Prog-Geschichte und auch „Stay“, die CHANDELIER-Prog-Hymne schlechthin, ist bereits auf „Fragments“ in einer etwas kürzeren Version vertreten.
Überhaupt ist es dieses hymnische „Stay“, das einen vor seiner Anlage stehen und lauthals mit gestrecktem Arm und zur Faust geballten Hand Richtung Sternenhimmel „Stay, stay, stay, stay wild!“ singen lässt, um einem dann mit MARILLION-Klang den Neo-Prog-Suchtfaktor aufzudrücken. Einfach sagenhaft der Song! MARILLION haben ihr „Kayleigh“, CHANDELIER ihr „Stay“, das mindestens genauso erfolgreich sein müsste, wenn die Musik-Szene nur halbwegs gerecht wäre. Ist sie aber nicht.
Ja, so ließ sie trotz „Fragments“ die Musikindustrie links liegen und mutig machten CHANDELIER das Beste aus ihrer Situation: sie gründeten ihr eigenes Label „Sisyphus Records“ und nahmen ihre erste eigene CD „Pure“ auf. Ein Album, das alle Qualitäten zwischen Akustik und Bombast – sogar Flöten sind auf zwei Stücken zu entdecken – besitzt, die man von einem wirklich guten Neo-Prog-Album erwartet und noch dazu besser als „Seasons End“ von MARILLION klingt, die gerade ihren FIS(H) verloren hatten und ein neues H-Zeitalter einläuteten. Ganz im Gegensatz zu „Pure“, das genau die alten Strukturen aus dem Hause MARILLION aufgriff, ohne auch nur im entferntesten nach Klonerei oder Plagiatiererei zu müffeln.
„Pure“ trägt einen eigenen Geist in sich, der im Jahr 1990 absolut vorbildlich für all das ist, was sich in der Zeit in und hinter all den melodischen Prog-Schubladen verbirgt.
Und warum nur schreibt man im progressiven Rock immer so viel (nur) über die Musik und so wenig über die damit verbundenen Texte, denn auch hier trennt sich der Schro(t)t vom Weizen – und CHANDELIER haben doch so viel zu sagen und singen!
Auch oder gerade das macht ihre Musik aus, genauso wie die provokante Weltsicht und Weitsicht von MARILLION, auf die ein FISH so großen Wert legte. Oder auf den auch die ehemaligen, zwischen den Zeilen schreiben müssenden ostdeutschen Prog-Bands STERN-COMBO MEISSEN, LIFT und ELECTRA sich beriefen, wenn sie sich auf „Meeresfahrt“ in Richtung „Süden“ begaben oder am „Südpol kämpften“, nachdem sie in der „Sage“ die Freiheit und Befreiung von Unterdrückung sowie Diktatur besangen, dabei dem „Albatros“ (Der beste und progressivste Song, den KARAT jemals schrieb!) folgten und in den im Sozialismus so sehr verhassten „Dom“ eingetreten waren, obwohl doch überall JESSICAs „Ich beobachte dich“ galt.
CHANDELIERs „Dictator“ wird so zu einem Blick in die Glaskugel der Weltgeschichte: „I‘ve heard rumours about revolution aloud / - No chance for that - / My soldiers are loyal / For their wages are royal / The rebels stay thin and I stay fat“ … und der Kritiker denkt daran, wie man in der diktatorischen DDR die Mauerschützen mit Sonderurlaub und einer Prämie von bis zu 1000 Mark dafür belobigte, wenn sie einen fried- und freiheitsliebenden „Vaterlandsverräter“ beim Versuch des Grenzdurchbruchs in den Rücken schossen.
Und das alles noch bis 1989.
Jedenfalls wird nach der Kassette „Fragments“ das Album „Pure“ im November 1990 veröffentlicht und ist als erste Pressung schon Ende des gleichen Jahres ausverkauft.
...
Schon im nächsten Jahr feiert „Pure“ dann seinen 30. Geburtstag, während die Aufnahmen der Bonus-CD dann schon 32 Jahre auf dem neoprogressiven Buckel haben!
FAZIT: Fast 30 Jahre nach Veröffentlichung von „Pure“ und über 30 Jahre nach der Kassetten-Veröffentlichung „Fragments“ war es allerhöchste Zeit für die Neuveröffentlichung dieses großartigen CHANDELIER-Albums, das nun neben dem sehr guten EROC-Remaster durch die ebenfalls hervorragend remasterte Bonus-CD mit allen Aufnahmen von „Fragments“ begeistert. Alle, die sich sehnsuchtsvoll an die FISH-Ära von MARILLION erinnern, werden mit „Pure“ und „Fragments“ ein bombastisches Aha-Erlebnis haben, das ihnen ganz besonders auch durch die charismatische Stimme von Martin Eden beschert wird: „See how I‘m sailing in the eye of the storm / Leave your fears behind / Or soon you‘ll be blind / For the miracle called life.“ So endet das Album, das in seiner aktuellen Ausgabe genauso wundervoll wie die letzte Strophe von „Call For Life“ geworden ist.
- 1-3 Punkte: Grottenschlecht - Finger weg
- 4-6 Punkte: Streckenweise anhörbar, Kaufempfehlung nur für eingefleischte Fans
- 7-9 Punkte: Einige Lichtblicke, eher überdurchschnittlich, das gewisse Etwas fehlt
- 10-12 Punkte: Wirklich gutes Album, es gibt keine großen Kritikpunkte
- 13-14 Punkte: Einmalig gutes Album mit Zeug zum Klassiker, ragt deutlich aus der Masse
- 15 Punkte: Absolutes Meisterwerk - so was gibt´s höchstens einmal im Jahr
- CD 1 „Pure“ – Originally released on Sysyphus Records 001 (1990) (49:58):
- Stellar Attraction
- After The Day
- Stay
- Jericha
- Pure
- Winterpause
- Cat‘s Worst Grave
- Dictator
- The Ultimate Song
- Call For Life
- CD 2 „Fragments“ – Originally self-released by band on cassette only (1988) (61:41):
- Stone Age
- The Ultimate Song
- Stay
- Three Falcons
- The Power Of Bluff
- Dedication
- Lies In Paradise
- Glimpse Of Home
- Paralyzed Previously unreleased track from sessions
- Ital
- Bass - Christoph Rombach, Udo Lang
- Gesang - Martin Eden
- Gitarre - Udo Lang, Tobias Budnowski, Martin Eden
- Keys - Tobias Budnowski
- Schlagzeug - Heribert Rubarth
- Sonstige - Christine Frenz (Flöte)
- Pure (2019) - 13/15 Punkten
- Facing Gravity (2019) - 14/15 Punkten
- We Can Fly (2023) - 12/15 Punkten