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Interview mit Cryptex (30.12.2015)

Cryptex

Der musikalische DA-VINCI-CODE aus Deutschland - oder die entschlüsselte Musiker-Seele zwischen schwerer Depression und verrückter Spielfreude

CRYPTEX!

Ja, das ist einerseits ein kleiner Safe, der mit einem Code nach Da Vinci versehen ist, welcher außergewöhnlich schwer zu knacken ist. 

Deutlich leichter zu knacken ist allerdings die niedersächsische Band CRYPTEX, deren Bassist MARC ANDREJKOVITS uns bereitwillig und uncodiert Rede und Antwort steht, damit wir die Geheimnisse hinter ihrem neusten Album „Madeleine Effect“ entschlüsseln können. Ganz so leicht ist das natürlich nicht bei einer Band, die sich zwischen Folk, Alternative, Rock und Prog bewegt und dabei auch noch behauptet, „zwischen allen (musikalischen) Stühlen“ zu sitzen, was uns auch beim Interview intensiver beschäftigen wird.

 

Hallo Marc - vorab gleich ein Versprechen!

Ich werde euch nicht nach Erklärungen für Band- und Album-Namen und allgemeines, schon x-mal gehörtes Trallala fragen, sondern hoffentlich ein wenig in den Bereichen schürfen, wo es Neues,  bisher Unbekanntes von CRYPTEX zu erkunden gibt. 

Also sollte eine meiner Fragen in das lapidare Schema F passen, zieh mir einfach einen drüber und verweigere dich bei der Beantwortung! Oder schick mich einfach in den Knast von eurem Album-Trailer zur Doppel-Vinyl-Version, in dem die Häftlinge mit eurer Musik bestraft oder beglückt werden ;-)

 

Und damit wären wir gleich bei der ersten Frage.

 

Für wen ist aus eurer Sicht „Madeleine Effect“ ein Glück und wer sollte eure Musik am besten meiden?

Ein „Glück“ ist „Madeleine Effect“ sicherlich für all diejenigen, die sich bei ihren Hörgewohnheiten nicht zu sehr an musikalischen Schubladen aufhängen und Musik noch als Kunstform betrachten und ehren. Ich würde mich freuen, wenn sich jeder an das Thema heranwagen würde – schwer zugänglich ist es ja eigentlich nicht - daher würde ich niemandem davon abraten, sich mit unserer Musik auseinanderzusetzen. Allerhöchstens den Melophobikern würde ich abraten sich „Madeleine Effect“ anzuhören - das gilt dann aber auch für jedwede Form von Musik.

Als ich euer Album das erste Mal gehört sowie die ersten Recherchen zur Band betrieben hatte, war ich recht überrascht, dass ihr alle noch unter 30 Jahre alt seid (Der Jüngste ist 24 und der Älteste 29 Jahre alt!). Da wirft sich dann tatsächlich die Frage auf, durch wen oder was ihr zu dieser abwechslungsreichen, aber größtenteils progressiven „Erwachsenenmusik“ ;-) gefunden habt. 

Ich verstehe den Begriff „Erwachsenenmusik“ mal als Kompliment und nicht als Synonym für „altbacken“. 

Die Einflüsse, die man in dem Album vermeintlich hört, entspringen, denke ich, den eigenen musikalischen Vorlieben als Musikliebhaber, die wir allesamt sind. Auf „Madeleine Effect“ wurde versucht, einen eigenen Ausdruck zu finden, der möglichst ehrlich ist und nicht versucht nachzuahmen, oder musikalischen Trends hinterherzulaufen. Wir sind keine großen Fans von musikalischen Schubladen oder Trenderscheinungen. Ich denke, dadurch, dass man sich selbst nicht durch eine genregebundene Engstirnigkeit beschneidet, gerät man dann auch schnell dazu, dass einem ein progressiver Einschlag zugesprochen wird, oder dass die Musik reifer erscheint. Wenn ich mich in unseren Reihen so umsehe, denke ich aber nicht, dass die Musik so erwachsen klingt, weil wir alle am Ende unserer Adoleszenz stehen. Ganz im Gegenteil. Wir sind privat ein sehr alberner Haufen und machen einfach die Musik, die wir selbst gerne hören würden.

 

Ich zitiere mal aus eurer Homepage: 

„CRYPTEX liefern mit ihrer ‚konsequent und aus Überzeugung zwischen allen Stühlen stehenden‘ Musik, sowie dem klaren und heutzutage seltenen Alleinstellungsmerkmal den perfekten Soundtrack für Romantiker, Phantasten, hoffnungslose Melancholiker, Partywütige, frisch Verliebte, Zornige, Trauernde, Außenseiter, Rebellen und Geächtete, um an einer beeindruckenden Reise durch ein facettenreiches, originelles und anspruchsvolles Sound-Kaleidoskop teilzunehmen.“ 

Habt ihr einen Hang zu Übertreibungen oder ist es euch mit der Aufzählung dieser so unterschiedlichen Charaktere wirklich ernst? 

Machen wir einfach mal den Test - also was gefällt ganz speziell einem a) Romantiker; b) Phantasten; c) hoffnungslosen Melancholiker; d) Partywütigen; e) frisch Verliebten; f) Zornigen; g) Trauernden; h) Außenseiter; i) Rebellen und j) Geächteten an eurer Musik bzw. „Madeleine Effect“?

Der (a) Romantiker als gefühlsbetonter Mensch, der zu Träumereien neigt, wird in der Musik auf „Madeleine Effect“ ein wolkiges Fundament für seine Luftschlösser finden. Um pathetisch zu bleiben, nehmen wir den Romantiker mit auf eine Reise durch längst vergessene und neue Welten, in welchen uns der (b) Phantast begegnet. Zusammen mit diesem gehen wir dabei bis an die Grenzen der Realität und bauen uns unsere eigene Wirklichkeit, fernab des tristen Alltags. In dieser Abgeschottetheit treffen wir auf den (c) hoffnungslosen Melancholiker, welcher hier seinen Grübeleien nachgehen kann und feststellen wird, dass er nicht der einzige Mensch ist, der sich von Zeit zu Zeit der Traurigkeit hingibt. In den treibenden und expressiven Rhythmen auf „Madeleine Effect“ tanzt sich der (d) Partywütige beinahe bis zur Bewusstlosigkeit in Rage. In seinem Rausch begegnet dieser den (e) frisch Verliebten und stößt mit diesen eingehüllt in ein multiinstrumentales Feuerwerk darauf an, wie schön und farbenfroh das Leben ist. Der (f) Zornige und der (g) Trauernde finden in den beschwichtigenden und kraftvollen Chorälen ihre kontemplative und aufbauende Ruhe. (h) Außenseiter, (i) Rebellen und (j) Geächtete bekommen mit „Madeleine Effect“ Hymnen für einen gemeinsamen Aufstand an die Hand, der sich gegen die Belanglosigkeit eines an die Norm angepassten Daseins erhebt.

 

Welchen Stellenwert haben für euch die Texte in eurer Musik? Die Frage stelle ich gerade aus dem Grund, weil viele sog. Proggies den Texten fast gar keine Bedeutung beimessen, was aus meiner Sicht mehr als bedauerlich ist. Außerdem wäre interessant, wie ihr diese Kombination von Musik und Text herstellt - also erst Textkonzept dann Musik oder umgekehrt?

Ich gehe zunächst auf den Konzeptionsprozess ein. Bei „Madeleine Effect“ war es so, dass zunächst die Musik geschrieben wurde und der Text nachträglich hinzugefügt worden ist. Hierzu muss man jedoch sagen, dass den Songs häufig bereits eine thematische Idee zugrundelag, bzw. dass mit dem Instrumentalen eine bestimmte thematische Stimmung intendiert worden ist. Diese Stimmung wurde dann beim nachträglichen Textschreiben aufgegriffen. Bei Cryptex sind die Texte sehr wichtig. Es würde keinen Sinn ergeben, wenn man sich instrumental so sehr ins Zeug legt, um eine situative Emotion einzufangen, und dann über das Kuchenrezept der Oma singt, außer man heißt vielleicht Helge Schneider. Der Gesangstext ist der intellektuelle Zugang zur Musik. Allerdings ist dieser auch nicht nur rein intellektuell. Worte können eine Menge Emotionen transportieren. Sprache versetzt uns in die Lage, Spiegelbilder unserer Vorstellungen im Anderen wachzurufen und dadurch gegenseitiges Verstehen auf vielerlei Ebenen zu erzeugen. Demnach würde man sich einer zentralen Ausdrucksmöglichkeit beschneiden, wenn man dem Text keine Bedeutung zuschreibt.

 

Auf eurer EP „Even Nature Will Be Thrilled“ (2008) findet man die Worte eures Sängers Simon, die da lauten:  „Lebe deine Visionen - und zerstöre dabei alle Dinge, die dich daran hindern!“ 

Eine ziemlich radikale Aussage. Wie sieht eure Lebensweisheit sieben Jahre später, anno 2015, fast schon 2016, aus?

Die Worte von Simon sind vermutlich nicht so destruktiv gemeint, wie man es vielleicht vermuten könnte. Der obige Satz entspricht also nicht dem zur Parole der deutschen Punkbewegung avancierten „Macht kaputt, was euch kaputt macht“, welche einem Song von Rio Reiser und Norbert Krause entstammt und in welchem diese zur Zerstörung des kapitalistischen Systems aufrufen. Es geht vielmehr darum, sich von dem zu lösen, was einen im eigenen Denken und Handeln davon abhält, das zu tun, was man tun möchte, bzw. was man sich als Lebensziel gesetzt hat. Der Mensch ist ein großer Meister darin, sich selbst durch bestimmte Denkmuster einzuschränken und dadurch im Wege zu stehen. Das „Sich-von-einem-solchen-Denkmuster-Lösen“ entspricht häufig einem inneren Kampf, bei welchem man zwischen dem, was man sich sehnlichst wünscht, und dem, was man glaubt in dieser Welt erreichen zu können, steht.  Im Prinzip hat sich daran nichts geändert. Allerhöchstens haben sich die Visionen noch weiter zu einem Bild verdichtet und wir mussten feststellen, dass man für alles im Leben viel Geduld und die Bereitschaft Umwege einzuschlagen aufbringen muss, wenn man ein bestimmtes Ziel verfolgt. 

 

Als am 24. April 2015 die CD-Ausgabe von „Madeleine Effect“ erschien, klangen Simons Worte deutlich verschlüsselter. Vielleicht kannst du, Marc, sie ja für diejenigen, denen euer Album noch nicht bekannt ist, entschlüsseln? Darum hier gleich das nächste Zitat: „Extrahiere die Schönheit und Reinheit des Schmerzes, erkenne die Anarchie der Vergängnis und du wirst ‚Madeleine Effect‘ verstehen.“ 

Was also erwartet den Hörer eures Albums hinter diesen Worten?

Bei der Verwendung des Wortes „Schmerz“ im obigen Zitat, ist hierbei vor allem von „seelischem Schmerz“ die Rede. „Madeleine Effect“ ist vor allem textlich autobiografisch angelegt. Simon (Moskon) verarbeitet hierbei viele persönliche Ereignisse vergangener Zeit. Dazu muss man sagen, dass bei Simon bereits vor einiger Zeit eine „schwere Depression“ diagnostiziert worden ist. Der seelische Schmerz ist also ein stetiger Begleiter in seinem Leben. 

In der Philosophie wird die Melancholie auch als eine Art Preis für die Erkenntnis der Welt gesehen. Dies beinhaltet die zentrale melancholiestiftende Erkenntnis darüber, dass der Mensch und die ihn umgebende Umwelt sterblich und vergänglich ist. Geknüpft an den von Marcel Proust dargestellten „Madeleine Effect“ stellt das Album daher eine Reflexion über das Leben dar, auf der Basis einer emotional-assoziativen Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart.

Oder ganz kurz und knackig: Simon (Moskon) gewährt uns einen kleinen Einblick in seine Seele.

 

Ihr gebt euch sehr große Mühe, eure Musik liebevoll an den Mann/die Frau zu bringen, wobei man sogar im Netz sehen kann, mit wie viel Aufwand ihr eure Deluxe-Box von „Madeleine Effect“ herstellt und gestaltet.

Erzähle uns zum Abschluss einfach, welche Überraschungen sich für den Käufer in dieser wirklich wundervoll gestalteten, dicken Box befinden!

Die Box enthält einen schicken Jutebeutel mit einem langen Henkel und dem Madeleineeffektkopf-Aufdruck. Dazu gibt es einen Sticker, einen Schlüsselanhänger sowie ein signiertes Tourplakat und eine signierte Autogrammkarte. Das Highlight der Box ist dann natürlich die 140g Doppel Vinyl, die nicht nur amtlich klingt, sondern mit einem liebevoll gestalteten Gatefold auch visuell beglücken kann.

Unter folgendem Link kann man sich anschauen, wie ich die Deluxebox lustvoll auspacke:

https://www.youtube.com/watch?v=IS9UQgHbLbM

 

Letzte Frage: Während ich dich mit diesem Interview quäle, würde mich interessieren, welche LP momentan auf deinem Plattenteller bzw. CD in deinem Player und welches Buch auf deinem Schreibtisch liegt?

 Beim Zurechtlegen meiner Worte für dieses Interview habe ich folgende Alben gehört:

Agent Fresco – Destrier

Peter Gabriel – Up

Steven Wilson – Hand Cannot Erase

 

Auf meinem Schreibtisch liegen derzeit folgende Bücher:

Aurelius Augustinus – Confessiones

Richard David Precht – Erkenne die Welt (Band I)

 

Dann drücke ich euch fest die Daumen, dass all eure musikalischen und persönlichen Wünsche für die Zukunft in Erfüllung gehen - doch ihr wisst ja: „Live can be a rollercoaster!“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Thoralf Koß - Chefredakteur (Info)
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