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SYNÄSTHESIE-FESTIVAL 2021 - Kulturbrauerei, Berlin, 19./20.11.2021 - 19.11.2021
Mit je einer gehörigen Portion Chuzpe und Hoffnung hatten die Macher des Synästhesie-Festivals die nunmehr sechste Ausgabe für den November des zweiten Pandemie-Jahres in der Berliner Kulturbrauerei eingeplant. Sagen wir mal so: Das ist dann gerade eben noch mal gut gegangen. Zwar war das Festival von vornherein unter 2G-Bedingungen angekündigt worden – aufgrund der rasant steigenden Inzidenzwerte wurden die Auflagen kurz vor dem Start aber nochmals verschärft, so dass zusätzlich noch ein negativer Antigen-Test vorgelegt werden musste, um eingelassen zu werden und die Kapazitäten der drei Spielstätten Kesselhaus, Maschinenhaus und RamaZamba-Bühne wurden auch nicht voll ausgeschöpft. Dafür gab es dann drinnen keine Maskenpflicht mehr und auch der Bewegungsradius der Besucher wurde nicht eingeschränkt (wie noch im Sommer beim Pop-Kultur-Festival an gleicher Stelle). Dennoch mussten bis zur letzten Sekunde mit unerwarteten Pandemie-Ausfällen umgegangen werden. So gab es einige krankheitsbedingte Absagen und auch das technische Personal musste aufgrund der Pandemie besonders flexibel agieren.
Trotz alledem geriet das Programm des vermutlich letzten Festivals des Jahres zu einem absoluten Highlight in Sachen Indie, Psychedelia, Darkwave, Art-, Prog- und Postrock, Elektronika, Postpunk und Krautrock. Eigentlich war das Ganze ja weiland als Krautrock-Institution gegründet worden – aber dieser Aspekt wurde in diesem Jahr eigentlich nur noch von dem Krautrock-Urgestein FAUST genrekonform bedient, denn das inzwischen mit Musikern aus drei Generationen sowie einem Streicher-Ensembles besetzte Kleinorchester präsentierte das bahnbrechende vierte Album von 1973 – inklusive des Genre-bestimmenden Titeltracks „Krautrock“ – in Gänze; wenngleich in einer hippiesk und kammermusikalisch aufgebohrten und gar nicht so verstaubten, zeitgemäßen Form.
Einen bestimmten roten Faden die Dramaturgie betreffend gab es eigentlich nicht – es fiel aber auf, dass der Termin für etliche der auftretenden Acts eigentlich ein wenig zu früh angesetzt worden war, denn die neuen Scheiben diverser Acts sollten erst nach dem Festival erscheinen. Das betraf zum Beispiel das Power-Pop-Trio SHYBITS, deren Debüt-Album noch gar nicht fertig gestellt ist, das aber im No-Nonsense-Vollgas-Stil mit packenden Rausschmeißern wie den Single-Tracks „Freaks“, „Bitumen Dreams“ oder „Be Sarcastic“ das Publikum im Handumdrehen für sich begeistern konnte. „Wasteland“, das Debütalbum von LAURA LEE & THE JETTES, war hingegen schon fertig, sollte aber erst eine Woche nach dem Festival erscheinen. LAURA LEE (die eine Hälfte von GURR) und ihre Musiker machten mit ihren stilistisch erstaunlich breit gefächerten Rock-Songs, die LAURA's Begeisterungen für alle Spielarten des Genres deutlich machte, ihre Show dann zu einer Art vorgezogener Record Release Show. Eigentlich hätte LAURAs Freundin aus GURR-Zeiten und jetzige Label-Kollegin ANDREYA CASABLANCA auch auf dem Festival spielen sollen, musste indes krankheitsbedingt absagen.
Das (erstaunlich songorientierte) neue Album „See Through You“ des New Yorker Noise Rock-Trios A PLACE TO BURY STRANGERS erscheint sogar erst im Februar nächsten Jahres. Nicht, dass sich das musikalisch bemerkbar gemacht hätte, denn obwohl das Trio eine dramaturgisch wirklich bemerkenswerte und für eine solche Veranstaltung erstaunlich publikumsnahe Live-Show inszenierte, ging das Ganze musikalisch auftragsgemäß in einem einzigen, mitreißenden Malstrom aus Noise, Feedback, Hall und Delay unter.
Auch das neue Album von LUCY KRUGER & THE LOST BOYS namens „Teen Tapes (For Performing Your Own Stunts)“ ist bereits im Kasten, wird aber ebenfalls erst im kommenden Jahr erscheinen. Diejenigen, welche die südafrikanische Wahlberlinerin zuletzt nicht mehr live gesehen hatte, dürften von der abrasiven Gewalt vieler ihrer neuen Titel überrascht gewesen sein. Denn während LUCY für gewöhnlich dräuend flüsternd durch die Nachtschatten zu wandeln pflegt, hatte sie nunmehr Lust, ein – wie bereits sie erwähnt – „lautes, zorniges Album“ einzuspielen, was sich natürlich auch bei ihrem Live-Auftritt im Maschinenhaus niederschlug.
NICHOLAS WOOD und KAT DAY sind besser bekannt als das audiovisuelle Duo THE KVB und hatten auch eine neue LP namens „Unity“ im Gepäck, von der sie bei ihrem Auftritt im Kesselhaus allerdings nur zwei Titel spielten, um (wie KAT sagte) die Erwartungen der Fans in Bezug auf die älteren Titel nicht zu enttäuschen. Diese Show inszenierte das Duo dann ganz alleine – allerdings mit jeder Menge Druck und Energie – nur mit effektbeladener Gitarre, Drum-Machine und Live-Synthesizern vor einem Potpourri der neuesten Visuals, welche KAT DAY für die Live-Shows entwickelte und die auf das Backdrop des Kesselhauses projiziert wurden.
Ob es demnächst eine LP des Trash-Glam-Punk-Trios JEALOUS geben wird, steht noch in den Sternen, aber DANE JOE, PAZ BONFIL und URI RENNERT machten das RambaZamba-Theater in ihrer gewohnten Manier zu einem Tollhaus und bewiesen zum wiederholten Male, dass Rock'n'Roll weder Perfektion noch Regeln noch Zurückhaltung braucht, um restlos begeistern und glücklich machen zu können. Das hat übrigens auch OLIVER ACKERMAN von den Labelkollegen APTBS erkannt, der JEALOUS im August mit einem Feedback-Remix des psychedelischen Dark-Country-Rip-Offs „Thunder“ unter die Arme griff.
Eine weitere interessante Quervebindung hatte ANIKA vorzuweisen, die im Kesselhaus mit ihrer Band ihr selbstbetiteltes Album zum Vortrag brachte und dabei auch Coverversionen wie DYLANs „Masters Of War“ aus ihrer Frühphase im gepflegten Krautrock-Corssover-Wave-Setting zu Gehör brachte. Die Wahlberlinerin hatte ihre musikalische Laufbahn vor ungefähr 10 Jahren in Bristol mit einem gemeinsamen Cover-Projekt mit GEOFF BARROW von PORTISHEAD begonnen, der auf dem Synästhesie-Festival mit seinem Fusion-Math-Rock-Trio BEAK> als Headliner-Act am zweiten Tag ein überwiegend männliches Publikum mit stachelig-visionärem Experimental-Rock in Atem hielt und sich dabei im schrulligen Dialog mit seinen Musikern als Possen reißender Showman präsentierte.
Ein weiteres Highlights, das sicher nicht alle auf dem Schirm gehabt haben dürften, stellte im Folgenden die Verpflichtung der italienischen Psychedelia-Rockband NEW CANDYS dar, welche zwar aufgrund der stroboskopartigen Beleuchtung/Schatten-Dramaturgie im Kunstnebel-Orkan nicht wirklich zu sehen war, die aber mit ihren hymnischen Grunge-Rock-Hits das vollgepackte Maschinenhaus rockte.
Die Berliner Songwriterin THALA zeigte mit ihrer Band am zweiten Festivaltag wieder einmal, warum sie allenthalben als kommende Ikone in Sachen psychedelisch angehauchtem Indie-Dream-Pop gehandelt wird. Das liegt unter anderem daran, dass THALA einen memorablen Indie-Pop-Hit wie „Did It Again“ oder „Something In The Water“ nach dem anderen aus dem Ärmel schüttelt.
Den unerwarteten Höhepunkt des Festivals als schlüssiges Gesamtkunstwerk stellte indes am ersten Tag der überraschende Auftritt des kurzfristig ins Programm gerutschten BRIAN JONESTOWN MASSACRES dar. Zwar wohnt BJM-Mastermind ANTON NEWCOMBE seit einiger Zeit über dem Büro des 8mm-Labels – welches das Festival ja ausrichtet – war aber von der Einladung offensichtlich so überrascht, dass es zwei Gitarristen brauchte, um ihm seine Retro-12-String-Gitarre zu stimmen und er selbst benötigte erst mal 10 Minuten, seine Text-Sheets auf einem Notenständer zu sortieren. Dann aber geriet das Set der 6-köpfigen Band (inklusive hauptberuflicher Tambourinistin) zu genau jener psychedelischer Retro-Rock-Dröhnung, welche die BJM-Fans auch erwartet hatten. Immer wieder faszinierend, wie das BJM es schafft, auch nach 18 Studioalben immer noch auf einem einzigen Gitarrenriff basierende epische Rocknummern zu erschaffen, die keine Sekunde Langeweile aufkommen lassen.
Mit dem stilistisch breitgefächerten Angebot sprach das Festival in diesem Jahr ein entsprechend buntgewürfeltes Publikum an. Der Gedanke, auf diese Weise das Geschehen vielleicht sogar entzerren zu können, schlug insofern fehl, als das sich dann doch für alle Acts genügend Interessierte fanden, die für ein volles Haus sorgten. Im nächsten Jahr soll das Festival dann hoffentlich wieder unter „normalen“ Bedingungen stattfinden – dann spielen solche Überlegungen ja eh keine Rolle mehr.
Foto-Credits Ullrich Maurer