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REEPERBAHN FESTIVAL 2022 - Hamburg - 21.09.2022
Das letztjährige Reeperbahn-Festival fand ja bekanntlich unter den erschwerten Bedingungen der behördlich angeordneten, strengen Pandemie-Regelungen statt, die dazu geführt hatten, dass aufgrund der Kapazitätsbeschränkungen in den teilnehmenden Clubs, des stark minimierten Angebotes insbesondere internationaler Acts, etlicher Absagen und der Maskenpflicht in allen Bereichen der Besuch des Festivals für die „normalen“ Musikfreunde ein nur eingeschränktes Vergnügen hatte sein können – was zu viel Ungemach geführt hatte.
In diesem Jahr stand das Festival dann unter dem Motto: „Alles wie früher“. Nach zwei Jahren Pandemie-Hybrid gab es nun also wieder ein „normales“ Reeperbahn-Festival mit dem vor der Pandemie üblichen Angebot. Insbesondere erfreulich war dabei, dass es keine Einlassbeschränkungen mehr gab (außer, wenn ein Club eben voll war), dass überhaupt wieder mehr Clubs bespielt werden konnten, dass es auch wieder mehr Bands als Solo-Künstler ins Line-Up geschafft hatten und vor allen Dingen, dass es erneut mehr internationale Acts zu bestaunen gab: Die USA waren der Länderpartner, das Canada House war wieder da, die Schweiz überzeugte mit einem Angebot, dessentwegen alleine sich der Besuch des Festivals gelohnt hätte und auch andere andere Länder, wie z.B. Dänemark, Luxemburg, Korea oder Italien, boten Showcase-Veranstaltungen mit internationalem Flair. Auch die Rockmusik kehrte wieder mit vielen interessanten Acts zum Reeperbahn-Festival zurück. Und erstmals betrug der Frauenanteil auf der Bühne mehr als 50% - was lange überfällig war und ein deutliches Gegengewicht zu den „normalen“ testosterongesteuerten „Herrentorten-Sommerfestivals“ darstellt.
Gleich der erste Festivaltag stellte in Sachen Rock einen Höhepunkt mit einem Schwerpunkt im 'Molotow' dar. Zuvor zeigten aber erst einmal PUBLIC DISPLAY OF AFFACTION im 'Uwe-Club', wo die Messlatte in Sachen Rock-Show heutzutage anzusiedeln ist. PDOA ist das neue Bandprojekt von JESPER MUNK, Frontfrau MADELEINE ROSE, dem Bassisten und künstlerischen Leiter LEWIS LOYD sowie Produzent und Drummer ANTON REMY. Offensichtlich haben sich die Herrschaften gefragt, wo denn der kreative Wahnsinn im Rock-Business abgeblieben sein mag und tun nun alles, diesen wieder gesellschaftsfähig zu machen. Ihr unglaublich wüster Mix aus Postpunk, Kaputnik-Blues, New Wave-, Indie-Pop und Freestyle Performance ist nicht wirklich zu greifen und zu kategorisieren – macht aber unbändigen Spaß und irgendwie ist da auf der musikalischen Seite auch für jeden etwas dabei. Die Musik ist aber nur ein Teil des Gesamtpaketes, denn im Zentrum steht die exaltierte Performance von MADELEINE ROSE, die wie ein irrer Derwisch über die Bühne tobt und dabei im metaphorischen wie im physischen Sinne jeden mitreißt, der ihr in die Quere kommt.
In der 'Nochtwache' – dem Kellerclub des legendären 'Nochtspeichers' – spielte derweil die italienische Musikerin CONSTANZA DELLE ROSE unter ihrem Solo-Alias mit ihrer Band KOKO auf. Das Interessante an dem Mix aus Post-Punk, Darkwave und New Wave, den KOKO da durchaus songorientiert aufbereitete, ist dann der Umstand, dass CONSTANZA als Bassistin der Combo BE FOREST ihrem Lead-Instrument treu geblieben ist und offensichtlich ihr Material auch auf dem Bass schreibt.
Wie bereits angedeutet, versammelten sich anschließend die Rockfreunde dann am Abend im 'Molotow', wo sich die Creme der aktuellen britischen Rockszene versammelt hatte und ein bemerkenswert vielschichtiges Bild eben dieser Szene zeigte. Beispielsweise überrollte das Quintett THE GOA EXPRESS aus Hebden Bridge in Yorkshire das neugierige Publikum mit einer brachialen, unglaublich lauten Dampfwalze aus stakkatoartigen Postpunk-Riffs und polternden Rhythmen, die ständig schneller zu werden drohten. Dabei machen JAMES DOUGLAS CLARKE und seine Jungs ja Musik für unsere Zeit: Unerbittlich, konsequent und irgendwie auch unbarmherzig – aber auch ebenso unterhaltsam.
Das Londoner Trio HONEYGLAZE ist aus einem ganz anderen Holz geschnitzt. Denn eigentlich hat sich die Songwriterin ANOUSKA SOKOLOW ja nur mit Bassist TIM CURTIS und Drummer YURI SHIBUICHI zusammengetan, damit sie auf der Bühne nicht so alleine ist, wenn sie ihre sensiblen Selbstfindungs-Songs zum besten gibt. Inzwischen hat sich die Sache aber verselbständigt. Schon auf dem selbst betitelten Debüt-Album zeigten HONEYGLAZE, dass sie auch mal rocken können – und auf der Bühne steigert sich das nun noch mal. Sagen wir mal so: Wenn die Band – allen voran Drummer YURI – gleich beim zweiten Track vor sich hinexplodiert, als gäbe es kein Morgen mehr, dann ist die Sache mit der sensiblen Liedermacherin und ihren Sidekicks schnell vergessen.
Die MYSTERINES aus Liverpool sind auf ihrem Siegeszug als Next Big Thing in Sachen britischer Rockmusik (wobei das nur die Attitüde und nicht einen bestimmten Stil bezeichnet) inzwischen auch in unseren Breiten angekommen, nachdem sie im UK und den USA mittels einer ausgeklügelten Strategie bereits größere Hallen zu füllen im Stande sind. In einem Club wie dem 'Molotow' wird man die MYSTERINES so schnell jedenfalls nicht wieder zu sehen bekommen. Das ahnten wohl auch die Fans, die sich zu hunderten in den Club gequetscht hatten, um wenigstens die Ahnung eines Blickes auf LEAH METCALFE und ihre Herren werfen zu können.
In der für das Reeperbahn Festival neu rekrutierten Spielstätte Drafthouse überzeugte derweil die Australierin HARRIETTE „HATCHIE“ PILBEAM und ihre Band mit einer Spielart der Rockmusik, die man aufgrund der poppigen Produktion ihrer Studioalben so eigentlich gar nicht erwartet hätte. Jedenfalls schreckte die Musikerin und ihre coolen Mitstreiter weder vor Rockstar-Gesten noch vor knackigen Riffs und treibenden Hooklines zurück. Auch in diesem Fall schien das Erfolgsgeheimnis darin zu bestehen, dass HATCHIE ihr Unternehmen nicht als Gitarristin, sondern als Bassistin leitet.
Im 'Molotow' hatten sich inzwischen die vier Damen der Band LIME GARDEN aus dem Britischen Küstenort Brighton eingerichtet. LIME GARDEN waren auch für den Anchor Award nominiert (der letztlich aber an das ebenfalls britische Pop-Trio CASSIA ging) – und gaben im 'Molotow' ihr Deutschland-Debüt. Schon alleine am unterschiedlichen Outfit der vier Mädels war dann zu erahnen, dass es da nicht bei einem bestimmten musikalischen Genre bleiben würde. Und dem war dann auch so: Es gab einen kunterbunt gewürfelten Mix aus Psychedelia, Girlie-Pop, und ein wenig Prog. Das alles wurde mit viel Theatralik, großen Gesten, aber auch stets mit Drive, Herz und Hooklines galore dargeboten. Den Namen LIME GARDEN sollte man sich merken.
Der zweite Festivaltag bot zwar kein so reichhaltiges Angebot in Sachen Rockmusik, dafür zeigte aber die Wahlberliner 'Nachwuchskünstlerin' LEEPA (die eigentlich nur deswegen als Nachwuchskünstlerin durchgeht, weil die Pandemie ihre Karriereplanung um zwei Jahre nach hinten geschoben hat), was in Sachen Power-Pop a la APRIL LAVIGNE auch heutzutage noch möglich ist. Eigentlich agiert LEEPA in einem eher R'n'B-orientierten Umfeld, zeigte aber mit ihrer Band, dass ein paar vollsatte Gitarrenriffs immer noch Wunder in Sachen Live-Vibes bewirken können.
Erneut in der 'Nochtwache' bewies das junge schwedische Quartett BEVERLY KILLS, dass Genrebezeichnungen wie Postpunk, Dreampop, Krautrock, New Wave und Psychedelia eben nur Schall und Rauch sind und weiter nichts aussagen, wenn man diese nur beherzt genug mischt. ALMA WESTERLUND und ihre Jungs steigerten sich in dem bis zum Bersten gefüllten kleinen Club geradezu in einen Rausch und legten ihr Set – nicht zuletzt dank Drummer HAMPUS HÖGGRENS unerbittlicher Motorik – in der Art einer alternativen Tanzparty an. Nun ja: Es hätte eine Tanzparty werden können, wenn denn genug Platz dafür vorhanden gewesen wäre.
Tag 3 hielt wieder einige schöne Highlights bereit – von denen unbedingt die Serie von drei Shows erwähnt werden muss, die die Australierin ALEX LAHEY an diesem Tag mit ihrer Band spielte und am Abend mit den Worten: „The Molotow is the best fucking club in the world“, ebendort zu einem krönenden Abschluss brachte. ALEX' dritte LP lässt ja noch auf sich warten – was sie aber nicht davon abhielt, neben den bekannten Gassenhauern auch neues Material in ihr Set einzubauen und dabei die Grenzen dessen, was man gemeinhin als Power-Pop bezeichnet, in rockiger Hinsicht nochmals ausweitete.
Zuvor gab die New Yorkerin BLU DETIGER (und das ist ihr richtiger Name) ihr Deutschland-Debüt im Rahmen des Empfangs der US-Delegation in der 'Sommerliebe'. BLU ging die Sache (wie zuvor schon KOKO und HATCHIE) als Bassistin an – allerdings nicht in einer dezidiert rockigen Auslegung, denn beim Auftritt der enorm professionell und cool agierenden Künstlerin und ihren Musikern ging es um die Disco-, Soul- und Club-Ästhetik des New York Groove der 70's, die BLU elegant und gekonnt wieder aufleben ließ.
Anschließend spielte dann CAROLINE ROSE im Mojo Club zum Tanz auf – allerdings auf eine ganz andere Art, als ihre dezidiert poppige und elektronisch orientierte LP „Superstar“ aus dem Jahre 2020 hätte vermuten lassen, denn nachdem Verkabelungsprobleme mit dem Equipment beseitigt werden konnten, legten sie sowie ihre gut gelaunte und motivierte Band eine grandiose Retro-Rockshow hin, bei der CAROLINE so ziemlich jede denkbare Rockstar-Pose in Reinkultur – nun ja, wie soll man sagen – persiflierte. Vom Unterhaltungsfaktor her war das jedenfalls die Überraschung und das Highlight des Tages.
Auch die inzwischen zur Bandleaderin mutierte Songwriterin LINA BROCKHOFF fügte dem Indie-Pop-Genre im 'Drafthouse' durchaus eigenständige Akzente hinzu, nachdem sie sich von der Inspiration ihres Idols PHOEBE BRIDGERS insofern freigemacht hat, als dass sie ihre geschickt konstruierten neuen Songs in eine rockige, druckvolle Richtung ausgestattet – und dabei bereits jetzt einen eigenen Sound entwickelt hat.
Bevor das offizielle Programm im permanenten Nieselregen des letzten Festivaltages losging, spielte JANA BAHRICH von der Luxemburgischen Band FRANCIS OF DELIRIUM noch einen spontanen Showcase bei den MOPO-Sessions (der Hamburger Morgenpost) auf dem Festival-Village-Gelände. Auch FRANCIS OF DELIRIUM spielten mehrere Gigs auf dem Festival – darunter am späteren Abend auch im 'Molotow Club' – allerdings war der Showcase bei der MOPO-Sessions insofern etwas Besonderes, als dass JANA hier auf einer geliehenen akustischen Gitarre spielte (deren Gurt ständig herunterzurutschen drohte). Die akustischen Elemente spielen ja bei den druckvollen, dystopischen Grunge-lastigen Rock-Shows von FOD keine große Rolle und so konnte man hier Songs wie den Crowd-Pleaser „Quit Fucking Around“ aus einer ganz anderen Perspektive bestaunen.
Wie man eine eindrucksvolle Live-Performance auch ohne großartige Hilfsmittel und eigenen Bassisten hinlegen kann, zeigte das Kanadische Duo-Projekt FEATURETTE auf der XL Bühne des Spielbudenplatzes. Drummer JON FEDERSON und die hyperaktive Frontfrau LEXIE JAY hatten sich gerade noch einen Gitarristen/Keyboarder geleistet – aber die gesamte Faszination ging von den exaltierten Moves und Gesten LEXIE JAY's aus, die sich mit einem Enthusiasmus und einer Begeisterung in die Performance hineinsteigerte, die geradezu ansteckend war. Mit dieser Attitüde und ihrer sympathischen, selbstironischen Präsentation wickelte sie das – für gewöhnlich bei solchen Anlässen eher gelangweilt rumstehende Wochenend-Laufpublikum – jedenfalls mühelos um den Finger.
Inzwischen hatte sich die, wie gewöhnlich um die Produzentenlegende TONY VISCONTI gruppierte Jury des Anchor-Awards entschlossen, den diesjährigen Preis für die beste (nominierte) Live-Band an das britische Power-Pop-Trio CASSIA zu vergeben, dass sich mit ihrem „Tropicalia“-Touch und einer Verbundenheit zu den deutschen GIANT ROOKS hierzulande bereits einen Namen gemacht hat.
Einen weiteren Akzent in Sachen Power-Pop setzte die Musician-turned-Influencerin ABBY ROBERTS mit ihrer Band aus Leeds im Bahnhof Pauli. Nominell macht ABBY Popmusik im klassischen Sinne. Da sie sich allerdings als Vorbild erkennbar nicht etwa gleichartig gepolte, zeitgenössische Kolleginnen ausgesucht hat, sondern den Indie-Sound der 90er, enthielt ihr Set immer wieder überraschende – und in dem Kontext gar nicht erwartete – Rock-Elemente. Nicht nur in Hinsicht der einstudierten Posen, sondern auch auf der musikalischen Seite, insbesondere dann, wenn ihre Gitarristin vom Zügel gelassen wurde und am Bühnenrand für Stimmung sorgte.
Ein letztes Highlight in Sachen ungewöhnlich aufgefasster Rockmusik bot am späten Abend die Irin SINEAD O'BRIEN mit ihren beiden Musikern im 'Molotow Club'. Ungewöhnlich deshalb, weil es sich bei SINEAD nicht um eine Musikerin und Sängerin handelt, sondern um eine Poetin und Rezitatorin, die sich mit zwei Rockmusikern zusammengetan hat, die (ohne eigenen Bassisten) alleine mit Drums und Gitarre zu zweit Musik für mindestens 6 machen. Hypnotische Grooves, coole Psychedelia und endlose Wortschwalle (fast ganz) ohne Gesang, aber mit unglaublich viel positiver Energie begeisterten das – teilweise verdutzte – Publikum auf eine Weise, wie sie vermutlich die Besucher der ersten Shows von PATTI SMITH erfahren haben dürften. Das war dann ein würdiger Abschluss für ein großartiges Festival, welches den Besuchern den Glauben an das Gute im Musikbusiness teilweise wieder zurückgegeben haben dürfte.