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Interview mit Nils Kercher (30.12.2013)

Nils Kercher

Musikalische Verwandlung auf afrikanisch – ein Blick hinter die geschlossenen Augen eines deutschen, weltmusikalischen Multiinstrumentalisten

  „Der Versuch, die Kontrolle zu behalten, aus Bequemlichkeit und Angst vor dem Unbekannten, lähmt die Leidenschaft, die Lebensfreude.“ (Nils Kercher)

Hinter dem Namen NILS KERCHER verbirgt sich mehr als ein musikalisches Erlebnis.

Dieses Interview mit ihm wird uns nicht nur den „Inneren Raum“ dieses außergewöhnlichen Musikers öffnen, sondern uns, nachdem wir seine Antworten gelesen haben, bestimmt auch darüber nachdenken lassen, wie wir heutzutage mit unserem „Inneren Raum“ umgehen - oder ob wir überhaupt schon mal darüber nachgedacht haben, die Türen zu diesem geheimnisvollen Bereich in uns ein wenig zu öffnen.

Es ist also höchste Zeit, so einige ereignisreichen Erlebnisse hinter NILS KERCHER zu lüften, um nicht nur im trüben, etwas unterkühlten Deutschland die heiße Leidenschaft und Vielfalt afrikanischer Musik zu verstehen, sondern auch, wie man dieser als Musiker mit Haut und Haaren verfallen kann.

Fangen wir also mit dem ersten Erlebnis an:

Was also muss passieren, um Afrika zu verfallen?

Hallo Nils, fühlst du dich eigentlich wohl in Deutschland oder verstehst du dich nur noch als ein Weltbürger, der unter anderem in Deutschland mal Station macht?

Ich lebe gerne hier, fühle mich aber innerlich nicht speziell einer bestimmten Nationalität zugehörig sondern einfach als Mensch auf dieser Erde. Mir ist jedoch bewusst, dass ich mich sehr glücklich schätzen kann, einen Pass aus diesem Land zu besitzen. Das ist mir vor allem klar geworden, nachdem ich zum ersten Mal einige Monate in Westafrika verbracht hatte. Auch wenn ich natürlich viele der Missstände sehe, die wir hier bei uns verbessern müssen, gibt es doch meiner Erfahrung nach hier - im Vergleich zu vielen anderen Ländern - viele Möglichkeiten, seinen Ideen und Inspirationen zu folgen und sie in die Tat umzusetzen. Letztlich gibt es also viel Freiheit, wenn man sich innerlich die Freiheit nimmt, sie zu nutzen. Auch für uns ganz selbstverständliche Dinge sind ein Luxus, wie beispielsweise ein Arztbesuch. Solche Institutionen wie die Polizei kann ich hier in Deutschland viel mehr schätzen, nachdem ich in Guinea mehrmals unangenehme, sogar beängstigende Situationen mit der dortigen Polizei erlebte und häufig gezwungen war, Schmiergeld zu bezahlen, wie es dort eben üblich ist.

Ich fühle mich aber in vielen Ländern wohl - überall ist es das schönste, mit anderen Menschen in authentischem Kontakt zu sein. Oft scheint das menschliche noch direkter dort hindurch zu kommen, wo der materielle Wohlstand begrenzt ist.

 

Und schon kommen wir zum zweiten Musik-Erlebnis um NILS KERCHER - nennen wir es einfach:


Die Entwicklung zu einem Musiker, dessen weltmusikalischer Perfektionismus ihn und seine Ausstrahlung manchmal wie von einer anderen Welt – oder zumindest einem anderen Kontinenten erscheinen lässt.


Jeder von uns macht in seinem Leben so einige Grenzerfahrungen, die ihn entweder aus der Bahn werfen oder radikal die Richtung wechseln lassen. Auch für dich muss es wohl solche Brüche gegeben haben, die dich deinen außergewöhnlich musikalischen Lebensweg beschreiten ließen! Also, was hat dich zur Musik gebracht? Und wie hast du die Musik Afrikas für dich entdeckt und zu deinem musikalischen Lebensinhalt werden lassen?

Etwas erwähne ich vorweg: es stimmt, dass meine Musik stark geprägt ist von der traditionellen Musik Westafrikas, aber ich würde nicht sagen, dass ich „afrikanische Musik“ mache - das könnte ich auch gar nicht. Damit es eine für mich authentische Musik sein kann, ist es mir wichtig, mit den Elementen, die ich dort aufnehmen durfte, frei umzugehen, sie neu zu interpretieren und dabei auch das mit einfließen zu lassen, was ich von unserer Musikkultur mitbringe, wie z.B. meine langjährige Erfahrung mit der Violine und klassischer Musik. Gerade diese Begegnung der verschiedenen Welten finde ich spannend. Dann hat die Musik eigentlich kein Label, auch wenn man sie natürlich irgendwie beschreiben muss, damit Musikinteressierte wissen können, worum es sich ungefähr handelt.

Nun aber zu Deiner Frage:

Als Teenager gab es Phasen, in denen ich mich manchmal mit einem Gefühl innerer Leblosigkeit und eines inneren „Nicht-frei-Seins“ konfrontiert sah, das manchmal so wirkte, als würde es sich nie auflösen. Ich würde heute sagen, dass es nichts anderes war, als eine Ebene, die jeder in sich trägt und auf irgendeine Weise im Lauf des Lebens damit konfrontiert wird, meistens ausgelöst durch ein schmerzhaftes Ereignis. Auch weiß ich heute, dass die Begegnung mit diesem inneren Schatten notwendig ist, um alte Strukturen zu erkennen und transformieren zu können. Erst dadurch kann sich das Neue und Lebendige entfalten.

Ich fühlte mich damals - neben dem wirklich vielem Guten, was ich erlebte - sehr anders als mein Umfeld es war. Obwohl ich überzeugt bin, dass viele der Erwachsenen, mit denen ich in Kontakt war, immer ihr Bestes gegeben haben und sehr bemüht waren, ihre Werte auch in die Tat umzusetzen, hatte ich doch den Eindruck, dass eigentlich in fast allen Teilen der Gesellschaft so vieles verdrängt wurde, unter Kontrolle gehalten wurde, gar nicht die Chance hatte, an die Oberfläche zu kommen, um überhaupt gesehen und dadurch geklärt und befreit zu werden. 

Diese ungeklärten Schichten in mir und um mich herum zu spüren und gleichzeitig diese starke Sehnsucht zu haben für etwas, das dahinter lag, erzeugte einen intensiven inneren Druck.

Irgendwie war es zum Glück nicht mein Impuls, vor diesem Druck zu flüchten oder mich zu betäuben, wie es so oft zu passieren scheint - oder ich habe sehr schnell gemerkt, dass dies nicht funktionierte - und so merkte ich, dass nur ein bewusstes Innehalten und direktes Hindurchgehen Befreiung brachte. Oft hat mir Musik-machen geholfen, in Kontakt mit dem zu sein, was in mir war und es dadurch auch umzuwandeln. Heute bin ich froh, genau das erlebt zu haben, was ich damals erlebt habe, denn dadurch habe ich etwas kostbares lernen dürfen.

Seitdem ich im Alter von 16 Jahren in meiner ersten Band Schlagzeug spielte, fühlte es sich manchmal so an, dass sich beim Zusammenspiel mit anderen Musikern eine Tür zu einer tieferen Ebene öffnete. Dann spielte die Musik sich fast von selbst und es war wie ein Eintauchen in einen Austausch, der weit jenseits der oberflächlichen Person lag. Danach war ich immer vitalisiert und erfüllt von Freude. Mir war klar, dass dies die eigentliche Weise sein musste, zusammen zu spielen, doch passierte es nur in seltenen, kostbaren Momenten...

Mehr davon fand ich in der westafrikanischen Musik, die ich mit 16 Jahren, zunächst über das Trommeln, kennen lernte. Ich hatte das Glück, genau den richtigen Lehrer - einen Deutschen Musiker, der lange in Guinea gelernt hatte - kennen zu lernen und bald war diese Musik eine große Leidenschaft geworden. Mit 17 begann ich, selbst Trommelunterricht zu geben. Mit 18 habe ich alleine gewohnt und mich durch das Unterrichten und kleine Konzerte ernährt, während ich nebenbei noch in der Schule war. 

Mein erster Aufenthalt in Westafrika, nach dem Abitur, war wie eine Initiation für mich und brachte eine solche Wendungen mit sich, die Du in Deiner Frage ansprichst.

Einer meiner afrikanischen Lehrer, der teilweise auch in Deutschland lebte, hatte mich eingeladen, eine zeitlang bei ihm in Guinea Unterricht zu nehmen. Ich lebte dort in einem sehr armen Viertel neben einer riesigen, qualmenden Mülldeponie. Ich wurde sehr krank und schwach. Ich verstand weder Französisch noch eine der westafrikanischen Sprachen. All diese Umstände waren nicht einfach, aber am schwierigsten war für mich, dass der eigentlich vereinbarte Unterricht mit meinem Lehrer nur selten stattfand. Trotzdem wollte ich unbedingt bleiben und weiterlernen. 

Es bestand eigentlich schon länger ein gutes Schüler-Lehrer-Verhältnis zwischen uns, ich achtete ihn sehr für sein elegantes und charismatisches Spiel und habe viel bei ihm gelernt. Zusätzlich hat er mir aber dann auch demonstriert, dass eine solche Fähigkeit nicht immer bedeutet, dass man auf allen Ebenen vertrauen kann - er selbst konnte dem Erwartungsdruck, der ihm von seiner Familie entgegen gebracht wurde, nicht standhalten. Er hatte mir direkt in der ersten Nacht meiner Ankunft in dieser fremden Welt dringend empfohlen, mein für viele Monate mitgebrachtes Bargeld aus Sicherheitsgründen im gut abschließbaren Zimmer seiner Mutter zu deponieren. Ein wenig zögerlich tat ich dies und irgendwann nach mehreren  Wochen, als ich wieder einmal einen kleinen Teil davon abholen wollte, war es komplett verschwunden. Ich glaube, es wurde unter anderem ein neues Grundstück ausserhalb der Stadt dafür gekauft und auch die Krankenhausrechnung des alten Vaters damit bezahlt. Es war ein Tabubruch, aus dem Hof des eigenen Lehrers, gegen den Protest und das Unverständnis der ganzen Familie auszuziehen und mir einen anderen Platz zum Wohnen und andere Lehrer zu organisieren. Dieses „Lehrgeld“, habe ich nie zurückbekommen, doch hat diese Situation mich bestärkt, noch mehr auf die eigene Stimme zu hören. 

Ich habe natürlich damals auch viel Schönes erlebt und die Würde, Herzlichkeit und Lebensfreude, mit der viele Menschen in diesen für uns unvorstellbar ärmlichen Lebensumständen lebten, veränderte mich. 

Musikalisch hatte ich bei meinem ersten Aufenthalt in Guinea einen großen Input, habe viele traditionelle Rhythmen und Melodien aufgenommen. Meine Sehnsucht, mehr von einer musikalischen Kommunikation kennen zu lernen, die noch tiefer geht, war jedoch durch diese Reise nicht wirklich erfüllt worden. Da, wo ich gedacht hatte, eine Ankunft zu finden, lag also eigentlich der Anfang einer langen inneren Reise.

Das Kranksein in Afrika und danach hatte schon sehr dazu beigetragen, dass ich durch das viele Liegen gezwungenermaßen viel Zeit hatte, nach Innen zu lauschen. Dadurch entdecke ich mehr von dem, was ich "inneren Raum" nennen würde. Ich merkte, wie sich dadurch auch in der Musik mehr von dem öffnete, was ich immer gesucht hatte.

Ich habe später, während weiterer Reisen nach Afrika, andere Musiker und andere, weit von den Städten abgelegene Gegenden kennen lernen dürfen. Die Menschen dort leben wie in einer anderen Zeit - oder Zeitlosigkeit - und ich merkte, dass dadurch eine tiefe innere Ruhe Teil ihres Alltags, ihrer Musik und ihres Bezugs zur Natur ist. 

Das, was im Dorf vor allem früher und mancherorts auch heute noch wirklich praktiziert wurde, würde an einem „normalen“ westlichen Publikum meist fast vorbeigehen, ohne dass es als etwas Bemerkenswertes erkannt werden würde, da bei uns die Sinne für den Raum hinter den Tönen, in dem das meiste abläuft, wenig entwickelt sind. Das scheint mir auch ein Grund zu sein, warum heute viele afrikanische Tanz- und Musikgruppen, die auf westlichen Bühnen auftreten, mehr den Werten unserer Welt gerecht werden, um erfolgreich zu sein: Schnelligkeit, Show, Leistung. Ich habe den Eindruck, dass heutzutage auch bei vielen Menschen in Afrika diese Sinne langsam weniger ausgebildet sind.

Du sprichst davon, dass du durch deine musikalische Ausbildung in Afrika auch Einblicke in die „verborgene, spirituelle Essenz“ gewinnen konntest. Also: Woran glaubst du? Wie sieht dein ganz persönliches Weltbild aus? 

Natürlich kann ein Außenstehender, wie ich einer war, wenn ich mich in Westafrika aufhielt, immer nur einige Aspekte einer anderen Kultur kennen lernen. Mir ging es dabei auch nie darum, möglichst alles dort zu verstehen oder zu katalogisieren, sondern um die Begegnungen mit den Menschen. Immer wieder bin ich offener Herzlichkeit, einem gebendem Lächeln, einem strahlenden Blick oder Gastfreundschaft begegnet und habe auch manche sehr traurigen Momente mit den Menschen geteilt, die aber durch die Offenheit und Authentizität der Begegnung auch eine große Schönheit in sich trugen. All das, und natürlich untrennbar davon diese so besondere Art des Musizierens, haben mir nach und nach auch etwas von der Spiritualität der Menschen näher gebracht.

Eigentlich lässt sich zu dieser Essenz der afrikanischen Musik, so wie ich sie dort in manchen Momenten erleben durfte, wenig sagen, denn das ist ja gerade das Bemerkenswerte und dabei so einfache: die Kapazität, jenseits von Worten oder Ideologien, in eine direkte Kommunikation zu tauchen, so real spürbar wie eben unsere anderen Sinne auch. Manche denken, es sei ein Weggehen, weit weg auf eine innere Reise, aber eigentlich ist es eher ein sehr präsenter, wacher Zustand, also ein Ankommen im Jetzt. Durch diese Präsenz baut sich ein Feld auf, über das alle Anwesenden etwas Vitalisierendes, Kraftvolles miteinander teilen können. Jeder Einzelne gibt seine Energie aber vor allem auch sein Zuhören und wird gleichzeitig von diesem Feld getragen. Durch einen so geteilten Fluss potenziert sich die Energie und alle profitieren davon. Egozentrisches Spiel, also ein Sich-Isolieren vom Gesamtfluss, z.B. um die eigene Person, das eigene Können besonders wichtig zu machen oder um in eine persönliche, von den anderen abgetrennte Euphorie abzudriften, wird dann uninteressant, denn es ist nur dieses gemeinsame Feld, das trägt und den mühelosen Fluss möglich macht. Alles andere ist dagegen flach und blass. Ich habe den Eindruck, dass diese Erfahrung, wenn sie immer wieder neu gemeinsam erlebt wird, jedem Einzelnen die Anbindung an eine lebendige Quelle und gleichzeitig den Zusammenhalt untereinander bestärkt. Dann hat für mich Musik eine spirituelle Komponente, die weniger eine weltanschauliche Theorie, als eine im Körper erfahrbare Realität sein kann. Und das gibt ihr einen Sinn, der tiefer geht, als nur die Summe der gespielten Töne. 

Diese Erfahrung kann sich auch auf andere Lebensbereiche übertragen. Es liegt ja auf der Hand, welche Folgen es auf einer globalen Ebene oder auch in Bezug auf die Psyche jedes Einzelnen hat, wenn sich alle als isoliert vom Ganzen wahrnehmen, wie wir es in unserer selbstzentrierten Zivilisation lernen. Unsere Zeit ist geprägt von dem Phänomen des Burnout - ob auf wirtschaftlicher, ökologischer oder persönlicher Ebene. 

Vielleicht ist das eher intellektuelle oder von außen beobachtende Herangehen an vieles, eben auch an die Musik, das heute bei uns zu finden ist, eigentlich ein Weg, Abstand zur eigentlichen Essenz zu halten. Diese ist eben auch irgendwie gefährlich, weil sie etwas Unmittelbares und Transformatives in sich trägt. Der Versuch, die Kontrolle zu behalten, aus Bequemlichkeit und Angst vor dem Unbekannten, lähmt die Leidenschaft, die Lebensfreude.

Ein Glauben, also ein mentales Konzept, hält diesen Abstand aufrecht, führt eher weg von der Lebendigkeit, vom Abenteuer des Lebens jetzt. 

Vielleicht waren den Missionaren, die ja im Auftrag der Kolonialmächte handelten, diese Sinnlichkeit, diese Bereitschaft für Hingabe und alles was dazu gehört, wenn Menschen natürlich singen, tanzen und lebendig sind, deshalb ein Dorn im Auge. Menschen, die diese Quelle und die Freiheit und Kraft, die sie mit sich bringt, im Inneren kennen, sind nicht einfach dazu zu kriegen, ein nicht in den Sinnen erfahrbares, mentales Konstrukt als Realität anzuerkennen. Dadurch sind sie eben auch nicht leicht manipulierbar mit Angst. 

Die Missionare waren sicherlich schockiert über die manchmal halb- oder gänzlich nackten Menschen, die sich einfach das Recht herausnahmen, frei zu sein und dabei noch nicht in der Selbstbeobachtung gefangen waren.

Erwähnen möchte ich in diesem Zusammenhang aber, dass ich den Eindruck habe, dass auch in vielen der alten Kulturen Afrikas bestimmte Traditionen und Konzepte weitervermittelt wurden, die auf ähnliche Weise nicht immer neu hinterfragt wurden und dadurch ebenfalls Platz für „Glauben“ oder Ängste, Aberglauben und Manipulation erlaubten. 

Vielleicht ist es auch eine Chance unserer Zeit, sich auf allen Ebenen noch tiefer von dem Ballast zu befreien, der eben in jeder Tradition stecken kann, weil sie leicht das Neue bremst, um sich selbst zu erhalten. Dadurch kann die Essenz, die dahinter liegt, wieder frisch entdeckt werden. Dann passt der Satz des Komponisten Gustav Mahler: „Tradition ist Bewahrung des Feuers und nicht Anbetung der Asche.“

Neben all der Lebendigkeit und den musikalischen Elementen, die ich aufnehmen durfte, war die Berührung mit dieser so anderen Kultur, die in vielerlei Hinsicht noch näher an einer natürlichen Lebensweise geblieben ist, auch deshalb sehr hilfreich, weil ich dadurch die Welt, aus der ich komme, mit ganz frischem Blick sehen konnte. 

Mir ist es also gar nicht wichtig, irgendeiner Tradition oder Ideologie zu dienen, sondern immer tiefer solche Strukturen in mir zu durchschauen und dadurch fallen zu lassen, die meine Wahrnehmung und mein Leben stumpf werden lassen, denn aus dieser Stumpfheit wächst vieles Ungesundes, auf persönlicher oder globaler Ebene.

  

Öffnen wir also die nächste Tür zu einem weiteren geheimnisvollen Raum im Inneren von NILS KERCHER:


Was verbirgt sich hinter einem Musiker, der unzählige Instrumente spielt, die uns vom Namen und Klang her gänzlich unbekannt sind und der auch lehrt, diese Instrumente zu verstehen und selber zu spielen.

 

Du bietest unter deiner ausgezeichnet gestalteten Homepage (http://www.nilskercher.com/index.html) auch Workshops im „Afrikanisches Trommeln und die Kunst des Lauschens“ oder „Afrikanischer Tanzmeditation“ an, die auch dazu dienen, sich von der deutschen Alltagshektik zu befreien. Was verbirgt sich hinter diesen Workshops – oder besser, was erwartet einen Teilnehmer, der sich darauf einlässt?

Kira, meine Partnerin, gibt Workshops für westafrikanischen Tanz und ich begleite sie musikalisch. Musik und Tanz sind in Afrika untrennbar. Durch diesen Austausch zwischen Musikern und Tänzern wird der Tanz lebendig. Es ist ein Geschenk, dies zusammen mit ihr teilen zu können. 

Ich selbst gebe Trommelworkshops, bei denen die Teilnehmer Djembe- und Bass-Rhythmen sowie Lieder aus Westafrika lernen.

Durch den Titel möchten wir kommunizieren, dass es um mehr geht, als „nur“ die rein technische Seite. Dadurch fühlen sich eher Teilnehmer/innen angezogen, die eine gewisse Bereitschaft für einen solchen Prozess mitbringen, der manchmal auch eine Konfrontation mit den eigenen Grenzen beinhaltet, damit etwas Neues entdeckt werden kann.

Es ist ja eigentlich selbstverständlich, dass, wenn man über die Methode lernt, über die wir hier in unserer Kultur vom Kindesalter an gelernt haben, das Ergebnis hinterher nur soweit gehen kann, wie eben diese Lernmethode es erlaubt.

Es geht also nicht, ein neues Programm auf ein altes zu schreiben - das gesamte System muss auf gewisse Weise erst einmal neu gestartet werden. 

Nebenbei kann dieser Prozess wie ein inspirierendes Übungsfeld für viele andere Lebensbereiche funktionieren. Musik ist dann nicht etwas, das nur als gelegentlicher Ausstieg aus dem Alltag benutzt wird. 

Viele empfinden diese Musik und diese Art, sich in eine Bewegung fallen zu lassen, als wohltuend und dabei unterstützend, einen natürlicheren Bezug zum eigenen Körper zu finden und tiefer in Kontakt mit der eigenen Lebendigkeit zu sein. Die Anspannung, die sich im alltäglichen Leben sammelt, kann leichter abfallen. Es ist also auch eine effektive und dabei sehr angenehme Form der „psychischen Hygiene“.

Die westafrikanischen Rhythmen sind wirklich inspirierend und musikalisch bereichernd - in meinem Unterricht geht es mir allerdings nicht darum, eine möglichst exakte äußere Form der traditionellen Djembe-Musik zu vermitteln. Ich erlaube es mir, frei damit umzugehen. Letztlich geht es darum, die eigene Quelle des Tanzes und der Musik im Inneren zu finden. 

Wie sieht deine Lebensphilosophie aus? Gibt es aus deiner Sicht Botschaften, die man den Menschen mit auf ihren Weg geben sollte? 

Nein, bestimmte Botschaften kann ich nicht benennen. Jegliche “Wahrheit“ muss selbst entdeckt werden, sonst trägt sie nicht die Kraft zur Veränderung in sich und wird nur Teil des alten, bekannten Denkmusters. Gerade da liegt ja die Intelligenz jedes einzelnen. Aber aus einem Dialog kann ein gemeinsames Entdecken entstehen. Das ist aber nicht ein „mit auf den Weg geben“, sondern eben ein gemeinsames Lauschen auf das, was der Moment entfalten kann.

 

Musik ist ein großer Bestandteil unserer Kultur und aller fremdländischen Kulturen. Doch es gibt auch andere Kunstformen, die sehr eng miteinander verknüpft sind – die Literatur, die Malerei uvm. Was für Bücher oder Texte liebst du besonders? Gibt es Maler, die dich besonders beeinflussen oder Bilder, die du vor dir siehst, wenn du die Augen schließt? 

 Nein, Bilder sehe ich selten, wenn ich meine Augen schließe, aber es ist immer eine Freude, finde ich, wenn durch das Werk eines Künstlers das Verbundensein mit einer Quelle der Inspiration im Inneren durchscheint. Und es gibt in allen Kulturen wunderbare Poeten und bildende Künstler. Das Gleiche ist aber auch jenseits jeder Kunstform, einfach im Ausdruck dieser Qualität im alltäglichen Leben möglich, wie im Lächeln eines Menschen oder seiner/ihrer Ausstrahlung.... das ist sicherlich mindestens genau so eine große Kunstform. Wenn ich einen Namen nennen sollte, dessen Texte oder Reden mich besonders inspirieren, dann ist das der Philosoph Jiddu Krishnamurti.

 

Kommen wir nun also zur letzten außergewöhnlichen Besonderheit, welche dieses Interview offenzulegen versucht:

Der Besonderheit zu einem Musiker, dessen Stimme wie ein Instrument klingen kann, das die gesamte Tonleiter rauf und runter spielt und der, wenn er die Augen beim Singen schließt, wie in tiefer Trance erscheint, der nur noch aus seinen Stimmbändern zu bestehen scheint.


Wo wir schon mal beim Augenschließen sind! Als ich deine Konzertaufnahmen auf DVD oder bei YouTube gesehen habe, war ich verblüfft, wie unglaublich tief du in deiner eigenen Musik zu versinken scheinst, wenn du beim Singen oder Musizieren die Augen schließt. Im Grunde sind deine Augen bei Konzerten, wie's scheint, fast ständig geschlossen! Kannst du beschreiben, was du in solchen Momenten hinter deinen verschlossenen Augen „siehst“?

Nichts. Ich höre einfach nur auf die Musik und auf den Raum hinter den Tönen. In diesem Raum ist auch der Austausch, also der non-verbale Dialog mit allen Anwesenden spürbar und auf dieser Ebene wirken alle durch Ihre Präsenz, Ihr Eintauchen, mit, ob sie nun aktiv ein Instrument spielen oder eben „nur“ zuhören. Ich habe den Eindruck, das ist ein ganz natürlicher Zustand, der schon seit eh und je zwischen Menschen geteilt wurde. In manchen Dörfern Westafrikas habe ich das erleben dürfen - hier bei uns ist er nicht so oft auf Anhieb zu finden. 

Dann ist das, was vielleicht so aussieht wie ein „Sich-zurückziehen“, eigentlich ein In-Kontakt-sein mit der Präsenz der anderen.Viel davon ist auch sichtbar in den Tänzern in den Dörfern Westafrikas, z.B. sehen die Doun-Doun-Ba-Tänzer sehr zentriert und introvertiert aus, während sie eigentlich äußerst kraftvoll und akrobatisch völlig synchron mit den anderen Tänzern eins zu sein scheinen. Auch viele derjenigen, die an meinen Workshops teilnehmen, schließen oft zwischendurch intuitiv die Augen, wenn sie zuhören, sogar Kinder tun dies nach einiger Zeit. Das Sehen ist in unserer Kultur sehr überbetont, fast das gesamte Wissen wird bei uns über die Augen vermittelt. Sogar Künste, wie die Musik, die eigentlich wenig mit dem Sehsinn zu tun haben, werden über den Umweg der Augen verinnerlicht, nämlich über die Noten. Eigentlich ist es aber, wenn man innerlich in Kontakt mit dem Klang ist, egal, ob man die Augen nun offen oder geschlossen hat. Übrigens habe ich sie auch immer wieder zwischendurch beim Spielen geöffnet... 

Was erwartet uns in nächster Zukunft, wenn wir den Namen NILS KERCHER hören? 

Ich bin gerade mit den Aufnahmen und der Bearbeitung eines neuen Studioalbums beschäftigt, Wenn alles so weiter läuft, wird es in etwa acht Monaten fertig sein. Barou Kouyaté, unser Mitmusiker aus Mali, der wunderbar auf der malischen Laute und der Gitarre spielt und eine sehr offene Haltung gegenüber dieser musikalischen Begegnung jenseits von festen traditionellen Strukturen mitbringt, hat seine Parts schon eingespielt. Kira und Sue Schlotte, unsere Cellistin, sowie die Sängerin Sylvia Laubé aus Paris waren ebenfalls schon im Studio. Jetzt fehlen noch einige Details von mir und die Nachbearbeitung, bei der ich mir immer viel Zeit nehme. Dabei merke ich dann, was noch fehlt und spiele selbst weitere Parts ein oder lade andere Gastmusiker ins Studio ein. Im März und im September werden wir Barou wieder aus Mali einfliegen und auf Tournee sein.


Vielen Dank für das Interview!

Danke!


Thoralf Koß - Chefredakteur (Info)
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