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Interview mit Darja Borowikowa zu RAMMSTEIN und ALEXEI NAWALNY (19.05.2021)

Darja Borowikowa zu RAMMSTEIN und ALEXEI NAWALNY

2,5 Jahre Haft für ein RAMMSTEIN-Video

DARJA BOROWIKOWA im Interview mit unserem Musikreviews.de-Gastrezensenten ARDY BELD:

"Sie konnten einfach nichts Besseres finden als ein Video von RAMMSTEIN".


Andrei Borowikow, ehemaliger Koordinator vom Alexei Nawalnys Anti-Korruptions-Fonds (FBK) in Archangelsk, wurde am 29. April 2021 auf einen Schlag zur russischen Berühmtheit. An diesem Tag wurde er zu 2,5 Jahren Haft verurteilt, weil er 2014 den Videoclip ‚Pussy‘ von RAMMSTEIN in seinem Profil auf dem sozialen Netzwerk VK abgespeichert hatte. Der Richter sah es als erwiesen an, dass der Aktivist mit dem Clip der deutschen Rockband ‚Pornografie verbreitet habe‘. Zuvor war Borowikow wegen verschiedener Protestaktionen zu Geldstrafen und 400 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt worden.

Am 18. Mai sprach ich mit seiner Ehefrau Darja, die in der 31. Schwangerschaftswoche ist.

Warst du im Gerichtssaal anwesend? Wie ist der Prozess verlaufen?

Während der ersten drei Anhörungen wurde ich als Zeugin aufgerufen. Ich habe dann von meinem Recht zu schweigen Gebrauch gemacht, um meinen Mann nicht zu belasten. Bei späteren Anhörungen und der Verurteilung wurde ich nicht mehr zugelassen. Als Grund wurde die Pandemie genannt.

Wie war die Verurteilung?

Natürlich hatten wir vorher alles mit Andrei besprochen. Da sind wir schon von der traurigen Möglichkeit ausgegangen, dass wir uns lange Zeit nicht sehen würden. Wir sind zusammen zum Gerichtsgebäude gegangen. Andrei ging mit seinem Anwalt hinein. Ich blieb mit einigen anderen vor dem Gericht zurück. Wir konnten den Prozess über einen Stream auf Instagram verfolgen. Die Verbindung war schlecht und der Richter sprach, wie immer, furchtbar undeutlich und so schnell, dass wir nicht sofort verstanden, dass Andrei für zwei Jahre und sechs Monate ins Gefängnis gehen wird. Wir hatten zunächst sechs Monate verstanden. Das wäre machbar gewesen, aber nein, zwei Jahre und sechs Monate. Alle waren tief betrübt.

Gab es irgendwelche Zeugen bei der Verhandlung?

Es gab einige Zeugen, aber der wichtigste war Aleksandr Durynin, ein ehemaliger Freiwilliger des Fonds. Februar 2020 kam er, wie sich später herausstellte, mit einer versteckten Kamera in das FBK-Büro. Er versuchte Andrei mit einem Gespräch zu provozieren. Er sagte zu ihm: "Ich habe gesehen, dass du ein seltsames Video in deinem VK-Profil hast, hast du keine Angst, dass du wegen Verbreitung von Pornografie ins Gefängnis kommst?" Andrei hatte dieses Video längst vergessen, schließlich hatte er es 2014 abgespeichert! Sie schauten sich das Lied dann gemeinsam an. Während dieses Gesprächs, also während der Aufnahme mit der versteckten Kamera, löschte Andrei sogar das Video. Er lachte noch darüber und sagte, es wäre lustig, wegen Pornografie ins Gefängnis zu gehen. Er scherzte darüber und schließlich wurde es zur traurigen Realität.

Es gibt wahrscheinlich Hunderte von VK-Nutzern, die diesen Videoclip in ihrem Profil gespeichert haben....

Ja, es sind mehr als zweihundert. Aber sie haben sich nur Andrei geschnappt. Es ist offensichtlich, warum. Sie konnten einfach nichts Besseres gegen ihn finden. Auf diese Weise hatten sie einen triftigen Grund.

Wo ist Andrei jetzt?

Er befindet sich im Haftzentrum Nummer 4 unweit von Archangelsk. Bis zur Berufung wird er dort bleiben. Und danach wird er in ein Straflager gebracht.

Wann ist die Berufung?

Es gab die Feiertage im Mai, deshalb hat sich alles verzögert. Wir haben die Dokumente bereits abgegeben, aber der Richter wird entscheiden. Unser Anwalt sagte, dass es wahrscheinlich Ende Mai oder Anfang Juni sein wird. Ich versuche, so oft wie möglich ein Paket im Gefängnis abzugeben.

Darfst du ihn besuchen?

Er wurde verurteilt nach der ‚allgemeinen Haftkategorie‘. Der Staatsanwalt forderte zwar die 'strenge Kategorie', aber das hat nicht geklappt. Die ‚allgemeine Kategorie‘ ist ein wenig besser, ich darf ihm bis zu 30 kg pro Monat an Paketen mit Kleidung und Lebensmitteln übergeben. Außerdem darf ich ihn zweimal im Monat besuchen. Ich habe ihn schon einmal besuchen dürfen.

Wann war das?

Am 12. Mai besuchte ich ihn zusammen mit seiner Mutter.

Wie war er drauf?

Er hat Scherze gemacht. Damit wir uns weniger Sorgen machen, natürlich. Er sah gut aus, er hatte seine normale Kleidung an. Wir mussten durch ein Telefon und eine Glaswand kommunizieren, natürlich. Ich konnte ihn nicht umarmen, das war sehr schlimm.

Andrei wurde erst 2019 Koordinator des FBK. Wie ist sein Verhältnis zu Alexei Nawalny und warum hat er den Fonds wieder verlassen?

Er ist seit 2017 aktiv in der Oppositionspolitik. Das war kurz vor den Wahlen. Zu dieser Zeit wurde ein FBK-Büro in Archangelsk eröffnet. Andrei hat sich damals als Freiwilliger gemeldet. Danach gab es weitere Aktionen, wie z.B. gegen die Rentenreform. Natürlich wurde er für die Teilnahme an Protesten zu Geldstrafen verurteilt. 2019 hat die Verwaltung den Bau einer Mülldeponie angekündigt. Dagegen wurde eine Großdemonstration organisiert an der sich viele Menschen beteiligten. Andrei war einer der Redner. Nach dem Protest wurde gegen ihn ein Verfahren nach demselben neuen Gesetz eingeleitet, für das der Moskauer Aktivist Konstantin Kotov verurteilt wurde. Andrei nahm daraufhin Kontakt auf mit dem FBK in Moskau und Alexei Nawalny fragte ihn, ob er Koordinator seines Stabes in Archangelsk werden wolle. Andrei dachte eine Weile darüber nach und stimmte schließlich zu. Bis zum Herbst des vergangenen Jahres blieb er Koordinator.

Und warum hat er den Job aufgegeben?

Das Problem war, dass Andrei bereits eine Menge Geldstrafen und Prozesse hinter sich hatte. Dies machte es ihm unmöglich, an irgendwelchen Wahlen als Kandidat teilzunehmen. Er wollte auch der jüngeren Generation eine Chance geben. Und es gab kleinere Meinungsverschiedenheiten mit dem Büro in Moskau. Aber er blieb in Kontakt mit einigen Mitarbeitern in der Hauptstadt. Sie gaben ihm auch juristische Unterstützung im "Pornografie-Fall". Der FBK hat natürlich hervorragende Juristen. Die ganze Zeit über gab es eine gute Beziehung zwischen Andrei und dem Fonds. Auch Nawalny hat ihn immer unterstützt, so gut er konnte.

Welche Arbeit hat Andrei vor dem FBK gemacht?

Er arbeitete für eine Werbeagentur. Im Vertrieb. Als er Koordinator für den FBK wurde, hat er dort gekündigt. Nach seiner Zeit beim Fonds war er als Freiberufler tätig. Er hatte noch ein paar alte Kontakte aus der Werbebranche.

Kannst du etwas über die politischen Themen erzählen an denen er gearbeitet hat?

Das wichtigste Thema der letzten Zeit war definitiv die Mülldeponie. Und die Gouverneurswahlen, zu denen er eine Reihe von Recherchen über Korruption veröffentlicht hatte. Andrei kümmerte sich auch viel um individuelle Probleme die Menschen aus der Region mit der Verwaltung hatten. Zum Beispiel drehten er und das Team einen Film über einen Vertreter der Regierungspartei ‚Einiges Russland‘ der als Verwalter einer kleinen Siedlung seine Kompetenzen gewaltig überschritt.

Was könnte der Grund sein, dass die Justiz so hart gegen ihn vorgeht?

Zumindest nicht dieser Unsinn mit dem Videoclip. Andrei ist hier einer der Anführer der Opposition. Er hielt gute Reden in einer klaren und einfachen Sprache. Das kam super an bei den Leuten. Sie kamen gerne, um ihm zuzuhören. Das hat den Behörden sicherlich nicht gefallen. Ich denke, die Idee war, dass, wenn sie ihn inhaftieren, jeder Angst bekommt und die Proteste aufhören würden.

Haben die Musiker von Rammstein ihn irgendwie unterstützt?

Andrei ist ein großer Fan von Rammstein, seit er zehn Jahre alt ist schon. Es tat ihm sehr leid, dass er noch nie auf einem ihrer Konzert gewesen war, es kam immer etwas dazwischen. Als im September 2020 die Klage gegen ihn eingereicht wurde, weil er diesen Videoclip gespeichert hatte, versuchte er, den Manager und die Bandmitglieder selbst zu erreichen. Er dachte, es könnte helfen, wenn sie seinem Fall Aufmerksamkeit schenken würden. Aber es kam überhaupt keine Reaktion. Menschlich gesehen haben sie ihn schwer enttäuscht. Nur der Gitarrist hatte nach der Verurteilung eine Nachricht über Andrei auf Instagram gepostet.

Gab es Musiker, die sich von einer besseren Seite gezeigt haben?

Ja, die Punkband 'Tarakany' (Kakerlaken) aus Moskau. Der Sänger dieser Band hat überall die Trommel geschlagen, um Andreis Fall bekannt zu machen. Das war großartig. Ich hoffe, dass es vor der Berufung noch andere geben wird, die den Fall öffentlich machen wollen. Das kann sich nur positiv auswirken.

Werdet ihr von Navalnys FBK unterstützt?

Leute vom FBK haben zusammen mit einigen Freunden eine Kampagne gestartet um Geld einzusammeln. Sie sagten zu mir: "Du bist in der dreißigsten Woche deiner Schwangerschaft, wie willst du das alleine schaffen?" Das konnte ich nicht ablehnen. Ich bin allen Beteiligten dafür sehr dankbar.

Das Interview führte ARDY BELD!


ANMERKUNG zum INTERVIEW:

Nachdem wir dieses Interview veröffentlicht haben, wollen wir euch mitteilen, dass wir ebenfalls versuchen werden, mit RAMMSTEIN in Kontakt zu treten und eine Möglichkeit der Unterstützung im Rahmen dieser zum Himmel schreienden Ungerechtigkeit gegenüber Andrei Borowikow herbeizuführen. Vielleicht können wir nicht verhindern, dass es noch immer Länder gibt, in denen Kunst und Musik ausreicht, um Menschen, die damit in Verbindung gebracht werden, zu verhaften oder gar zu töten. Und darum denken wir, dass die Künstler, die von diktatorischen Systemen missbraucht werden, um kritische Menschen zu inhaftieren, sich unbedingt auch zu Wort melden sollten.

Und gerade jetzt, wo in Deutschland durch die Video-Aktion der Schauspieler eine heiße Diskussion darüber entfacht wurde, was Kunst alles darf, wird uns immer klarer, was Kunst auf keinen Fall darf: Sie darf nicht dazu führen, dass andere Menschen, welche diese Kunst unterstützen und fördern, dafür eingesperrt werden. Hier müssen gerade auch die Musiker von RAMMSTEIN und alle anderen Künstler sich zu Wort melden und mit den Mitteln zur Wehr setzen, die ihnen zur Verfügung stehen: Ihre eigene Kunst und ihre öffentliche Aufmerksamkeit!

Wir bleiben auf jeden Fall dran und informieren euch hier über die weitere Entwicklung im Fall Andrei Borowikow und RAMMSTEIN! Und da gerade auch RAMMSTEIN, die ursprünglich in der diktatorischen DDR, welche mit ganz ähnlichen Mitteln die Kunst und Künstler unterdrückte, großgeworden sind und damals noch als FEELING B dagegen anzukämpfen hatten, hoffen wir, dass allein ihre Erinnerungen an diese Zeit auch ihre Aktivitäten fördern, denn in diesem Sinne bekommt auch der FEELING B-Song „Artig“ eine neue Dimension und Bedeutung.

Thoralf Koß (Chefredakteur von Musikreviews.de)


FEELING B mit "Artig"

 

Wegen diesem RAMMSTEIN-Song, der wegen der Altersbeschränkung nur direkt unter YouTube geschaut werden kann, wurde Andrei zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt:

PS: Übrigens war unter unserer Seite in der Review zu dem RAMMSTEIN-Album "Liebe ist für alle da" (2009), auf dem sich besagter Song befindet, konkret zu lesen: "'Pussy' – Geht musikalisch in Richtung 'America' und ist gar nicht mal so schlecht, textlich allerdings ähnlich dämlich wie „Rein, raus“, „Bück dich“ oder „Küss mich“. Wen die Porno-Promotion zu diesem Song im Zeitalter des Internets allerdings noch schocken sollte, habe ich jedoch bis heute nicht verstanden."

Wie sehr man sich doch täuschen kann, wenn man aus heutiger Sicht erleben muss, wozu dieser Song missbraucht werden kann!

Thoralf Koß - Chefredakteur (Info)