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Opeth: Heritage - Massen-Review
Das Geheimnis ist keines mehr und seit ein paar Wochen weiß die Welt, dass die schwedischen Progressive-Metal-Großmeister OPETH mit ihrem neuen Album "Heritage" einen fast schon radikalen Bruch mit der eigenen musikalischen Vergangenheit wagen. Das hat zur Folge, dass der Begriff "Metal" für Mastermind Mikael Åkerfeldt und seine Band im Grunde genommen kaum noch Relevanz hat und man sich auf den gleichen Pfaden austobt, wie es diverse Prog-Rock-Größen der 70er getan haben. Ob dieses Wagnis von Erfolg gekrönt ist, ist sicherlich Geschmackssache, wie die verschiedenen Reviews hier belegen.
Review von: Andreas Schulz (Profil)
Die Besprechung des neuen OPETH-Albums "Heritage" stellt den Rezensenten vor das Problem, dass man eigentlich nicht verraten möchte, was den Hörer erwartet. Denn der Überraschungseffekt ist so viel größer, wenn man einfach noch nicht weiß, was einen erwartet. Wenn man nicht weiß, dass der Death Metal komplett aus dem Repertoire gestrichen wurde, wenn man auf die Growls wartet, sie aber einfach nicht kommen. So ging es einem nämlich, als man schon recht früh das Vergnügen hatte, sich mit "Heritage" zu beschäftigen und man eben noch nichts darüber lesen konnte, was auf dem Album passiert und eben auch nicht passiert.
Inzwischen gibt es erste Reviews und der Song "The Devil’s Orchard" dürfte auch weitestgehend bekannt sein. Und damit ist klar, dass OPETH ihren Stil ganz gehörig umgekrempelt haben. Doch dies geschieht auf eine überaus nachvollziehbare Weise, denn im Grunde genommen hört man zu fast jeder Sekunde, wer hier am Werke ist. Das liegt zum einen natürlichen an Mikael Åkerfeldts charakteristischem Klargesang, zum anderen aber auch an den für die Band typischen Melodien, die oft erst ein bisschen schräg und unharmonisch wirken, ihren Zauber aber schnell entfalten können.
Darüberhinaus hat sich das Soundbild von OPETH jedoch radikal verändert. Nachdem "Ghost Reveries" und "Watershed" deutlich als artverwandt zu erkennen waren, gehen die Schweden auf "Heritage" ganz andere Wege. "Heritage" bedeutet bekanntlich Erbe und mit diesem Album führt man das weiter, was die Progrock-Größen der 70er etabliert haben. Dabei hütet man sich jedoch davor, komplett anachronistisch zu agieren, auch wenn die Produktion betont naturbelassen und herrlich analog ertönt. Zu diesem Zweck hat man das Album auch in einem Studio aufgenommen, in dem seit Jahrzehnten die gleichen Soundingenieure tätig sind und hat auf moderne Aufnahmetechnologien so gut es ging verzichtet. Das Ergebnis ist ein transparenter, warmer Sound, aus dem man jedes Instrument deutlich heraushören kann, bei dem der Gesang jedoch ruhig ein bisschen lauter erklingen könnte.
Noch besser als der Sound sind die Songs selber. Der Verzicht auf die hartmetallischen Elemente bedeutet nämlich keineswegs, dass eine Komponente innerhalb der Musik fehlen würde oder dass "Heritage" nicht genügend Abwechslung zu bieten hätte, im Gegenteil. Gut, ein gewisses Verständnis für jazzige Klänge sollte schon vorhanden sein, um einen Song wie "Nepenthe" zu mögen und auch das andächtig vor sich hin proggende "Häxprocess" verlangt Geduld und Aufmerksamkeit. Demgegenüber überrascht das schnelle und fast schon eingängige "Slither", "The Lines In My Hand" geht in eine ähnliche Richtung. Höhepunkte sind aber ganz klar das erst angenehm fließende und sich immer mehr steigernde "I Feel The Dark", das spannende und höchst abwechslungsreiche "Famine" sowie das mit einem grandiosen Schlusspart aufwartende "Folklore". Je ein Instrumental am Anfang und Ende geben den Rahmen vor.
FAZIT: Wo viele andere Bands daran scheitern, sich neu zu erfinden, gelingt OPETH der Schritt in eine neue Ära scheinbar mühelos und ohne die Fans unnötig vor den Kopf zu stoßen – zumindest jene, die OPETH nicht wegen der Death-Metal-Wurzeln mochten. "Heritage" ist sicherlich kein Konsensalbum, dafür ist es viel zu visionär und künstlerisch zu wertvoll, um von den Massen vertilgt zu werden. Gut so.
13 von 15 Punkten
Review von: Chris P. (Profil)
Vom 1995er Debüt "Orchid" bis hin zum 2001er Überwerk "Blackwater Park" bestach die Band mit ihrem sehr variablen, progressiven Extremmetal, wobei "Still Life" aus dem Jahre 1999 mit seiner deutlich ruhigeren Ausrichtung überraschte. Doch bereits mit "Deliverance" machten sich bei den Jungs um Mikael Åkerfeldt so langsam Abnutzungserscheinungen bemerkbar – zumindest, was den metallischen Teil OPETHs anging. Ja ihr ahnt es schon: Es wird höllisch subjektiv in diesem Review. Packt schon mal die Pflastersteine aus und bastelt euch Textbausteine wie "Du hast doch keine Ahnung!" oder "Was redest Du Idiot da für‘n Müll? Opäss sind Gott!". Aber weiter im Text.
Das zeitgleich aufgenommene, kurz darauf erschienene Werk "Damnation" zeigte dann eine neue Facette des Gespanns, denn auf diesem Werk dieses Werk verzichteten die Skandinavier vollständig auf extreme Vocals und Metalelemente. Vielmehr war diese Scheibe ein Exkurs in die proggigen Siebziger, und hierbei hat Steven Wilson (PORCUPINE TREE), der dieses Album zusammen mit der Band produzierte und auch instrumental und gesanglich hier und dort seine Marke hinterlassen hat, wohl einen starken Einfluss auf die Stockholmer Band gehabt, denn hier und dort sind Parallelen zu den Stachelschweinbäumen unverkennbar. Eine grandiose Idee, doch an der Umsetzung derselben haperte es, denn bei dieser Langrille war das Hauptmanko, dass die Songs recht belanglos vor sich hinplätscherten und Åkerfeldts cleane Stimme seinerzeit noch recht charismaarm war. Mit "Ghost Reveries" versuchten die Schweden dann den Spagat zwischen Neuem und Altem, wobei sich so langsam ein Nummer-Sicher-Feeling eingeschlichen hatte. Ähnliches galt auch für das 2008 veröffentlichte, noch halbherzig wirkende "Watershed", das allerdings schon andeutete, wohin die Evolution von OPETH führt. Doch ein Befreiungsschlag vom extremen Metal war hiernach definitiv nötig.
Den hat das seit nunmehr 21 Jahren existierende Gespann nun vollzogen: Mit Extremmetal hat "Heritage" praktisch gar nichts mehr zu tun. Nicht einmal mit Metal. Stattdessen stellt das zehnte Studiowerk den wohl krassesten Stilbruch in der Geschichte OPETHs dar. Dies fängt schon beim Sound an: Die extrem warme, organische Produktion des 57-minütigen Zehnsönglers hat ein massives Vintage-Flair, lediglich der Druck, der aus den Boxen entweicht, deutet darauf hin, dass es sich um eine aktuelle Veröffentlichung handelt. Aber auch musikalisch findet man keinen Powerchord oder dergleichen mehr, auch keinen Ansatz des Knüppelns, keinen einzigen Growl, keinen Scream – stattdessen geht die Band in ihrem Gemisch aus Progressive Rock, gaaanz dezenten spacigen Stoner-Anleihen (wie beispielsweise in "Slither" oder "The Devil‘s Orchard") und zahlreichen orientalisch angehauchten Melodien auf. Hierbei erreichen Mikael und Anhang einen Individualitätspegel, der noch nie höher war. Die Krönung sind allerdings die noch nie so stark dagewesenen Jazz- und Fusion-Einflüsse – ein Song wie "Nepenthe" treibt dies dann völlig auf die Spitze. Fehlt bloß noch die Trompete und das Saxophon
Wenn es denn doch mal lauter und turbulenter wird (zweites Drittel von "Famine" als Beispiel), dann stets in einem Art-Rock-Gewand, das eher nach bunten Hemden, Schlaghosen, verschwitzten Locken, Backenbärten und seltsamen Kräutern und Pilzen riecht als nach qualmenden Amps, knackig sitzendem Leder, Bierpfützen, Pyrotechnik und Plektrenstaub. Vielmehr möchte man, anstatt breitbeinig die Mähne propellern zu lassen, zu dem Album unkoordinierte Bewegungen machen, so als wären Kopf und Gliedmaßen die Schlangen auf Medusas Haupt, die wild tanzen. Eine solche Energie, wie sie im fulminanten Songfinale von "The Lines In My Hand" entsteht, bekommt man mit den kreischendsten Verstärkern, dem lautesten Gebrüll und der höchsten Geschwindigkeit nicht hin. Das hier ist einfach nur Musik mit 100% Feeling.
FAZIT: Mit "Heritage" überraschen OPETH auf ganzer Linie, und sämtliche meiner Bedenken, dass die Band mich etwa erneut zu Tode langweilen könnte, waren bereits während des ersten Albumdurchlaufs wie weggespült. Und tauchten nie wieder auf. Willkommen zurück an der Spitze.
13 von 15 Punkten
Review von: Daniel Fischer (Profil)
Nun haben OPETH also den Schritt vollzogen, den man (zumindest in Ansätzen) eigentlich bereits vor Jahren erwartet und je nach den eigenen Vorlieben darauf gehofft oder es befürchtet hatte: die endgültige Abkehr von den Death-Metal-Wurzeln. Die dabei zu Tage tretende Konsequenz erstaunt indes doch ein wenig. Fast scheint es, als wolle Mikael Åkerfeldt mit einem "Tigersprung" alle Entwicklungsschritte auf einmal nehmen, die er auf den vorangegangen Alben vielleicht zu zaghaft nur angedeutet hatte. Soll heißen, nicht nur die Growls, die ohnehin zuletzt wie ein ungeliebtes Relikt wirkten, wurden komplett gestrichen, auch musikalisch hat man zu weiten Teilen praktisch gleich dem ganzen Metal-Genre den Rücken gekehrt. OPETH haben sich quasi neu erfunden und frönen hingebungsvoll und verspielt dem Progressive Rock der Siebziger. Da wird georgelt wie einst Bo Hansson, Bass und Drums scheinen völlig frei und jazzig zu improvisieren, viele akustische, ruhige und psychedelische Momente dominieren das Bild, und selbst die verzerrten Gitarren klingen oft mehr nach Hendrix als nach Hetfield.
Sicher, all diese Elemente waren schon lange Teil des Bandsounds, allerdings wurden sie nie so unmittelbar, puristisch und ohne jeglichen "Crossover" umgesetzt. Während OPETH früher diverse Einflüsse als genrefremde Würzmischung in ihren eigenen, progressiven Death-Metal-Sound einfließen ließen, ist die Band jetzt sozusagen einfach gleich ganz in das Genre ihrer Vorbilder und Lieblingsbands gewechselt. Ein Großteil der Musik könnte tatsächlich sowohl von der Komposition, der Performance und auch dem Klangbild her irgendeiner obskuren, psychedelischen Prog-Rock-Platte aus den Siebzigern entstammen, und das flotte "Slither" klingt gar nach den frühen DEEP PURPLE oder RAINBOW. Und doch ist "Heritage" unverkennbar OPETH, mehr noch: Vor allem die vielen ruhigen Passagen erinnern zumindest atmosphärisch einige Male an entsprechende Momente auf Alben wie "Still Life". Und nicht nur das Cover könnte dem Okkultstreifen "Die neun Pforten" entnommen sein, ausgerechnet diese scheinbar sanften, gemäßigten Momente wirken ausgesprochen düster und unheimlich ("I Feel The Dark"), teilweise sogar fast beklemmend, wie es kein aufgesetzt harscher Death-Metal-Part gekonnt hätte.
Das Resultat der Neuausrichtung von OPETH klingt, nicht zuletzt aufgrund der stimmlichen Ähnlichkeiten, eher wie ein Album, dass man von Mikaels Kumpel Dan Swanö erwartet hätte. Wobei der ausgesprochene Prog-Rock-Freak sicherlich ein wenig mehr Wert auf große Refrains gelegt hätte. Doch auch wenn diese praktisch nicht existent sind, fragt man sich, warum Mikael Åkerfeldt so lange an den Growls festgehalten hat, denn vermisst werden diese nicht. Sein Klargesang klingt nicht nur souverän, sondern auch sehr gefühlvoll, ehrlich und durchaus abwechslungsreich. Durch den Verzicht auf das Gegrunze kommen weitere Facetten seiner Stimme zum Vorschein, vielleicht trieb ihn diese fehlende "Sicherheit" ja zu neuen Höchstleistungen. Auch spieltechnisch wachsen OPETH über sich hinaus, das Album strotzt nur so von filigranen Passagen. Dabei geht es weniger um Technik (obwohl diese natürlich herausragend ist), als vielmehr um Feeling, Ausdruck, Dynamik und subtile Feinheiten.
Doch trotz aller gemeisterten Herausforderungen gibt es auch Anlass zur Kritik: "Heritage" wirkt oft wie Stückwerk, wie aus diversen Jamsessions zusammengesetzt. Viele Parts klingen jazzig und improvisiert, dadurch erscheinen manche Songstrukturen fast willkürlich. Auch wenn man sich bei der Studioarbeit größtenteils an die von Mikael Åkerfeldt vorbereiteten Demos hielt, klingen einige Tracks tatsächlich so, als hätte man einfach eine spontane Improvisation an die andere gehängt. Teilweise sogar ohne Übergang, die Band hört einfach mit einem Part auf und beginnt nach einem kurzen Break mit einem anderen. Die vielen scheinbaren Pausen (die oft nur von einer extremen Laut/Leise-Dynamik herrühren) erfordern Geduld und Konzentration vom Hörer. "Heritage" klingt dadurch noch mehr wie ein Album der Siebziger, damals entstand die Musik tatsächlich oft spontan im Studio. Diese Vorgehensweise sorgt für eine gewisse Atmosphäre und macht es für den Hörer teilweise sogar spannend, ergibt jedoch nicht immer schlüssige Kompositionen.
FAZIT: "Heritage" ist ein Befreiungsschlag für OPETH, aber sicherlich noch nicht der Weisheit letzter Schluss. Der Mut der Band, sich neu zu definieren, ist zu begrüßen und lässt OPETH wieder frisch und aufregend klingen, aber das sehr freie, stellenweise improvisiert wirkende Songwriting kann noch nicht hundertprozentig überzeugen. Dennoch eine spannende Entwicklung, die Lust auf mehr macht, beim nächsten Mal dürfen die Kompositionen aber ruhig etwas strukturierter und durchdachter ausfallen. Mir persönlich klingt das Material an einigen Stellen einfach etwas zu psychedelisch, wer jedoch ein ausgesprochenes Faible für diese Spielart der Siebziger hat, wird "Heritage" lieben.
10 von 15 Punkten
Review von: Lothar Hausfeld (Profil)
Ich habe es versucht. Man kann schon fast sagen, dass ich es erzwingen wollte. Weil ich mich OPETH schon seit ewigen Zeiten nähern wollte. Wie das so ist mit der einen oder anderen Band: Man nimmt sich vor, sich mit ihr zu beschäftigen, doch irgendetwas kommt immer dazwischen.
Also jetzt: "Heritage". Die Beschreibung klang schon mal gut. 70er Jahre Prog-Rock? Da simmer dabei. Doch dann der erste Durchgang: Entsetzen. DAS sind OPETH, diese Konsensband, die die gesamte Intelligenzija des Metals kollektiv abfeiert? Nein, nein, nein, das muss ein Irrtum sein. Nochmal. Gleiches Ergebnis. Gähnende Langeweile. Das Spielchen wiederholte sich. Mehrfach. Um genau zu sein, 18 Mal. Sagt mein iPod. 18 Mal habe ich versucht, mir "Heritage" schön zu hören. Vergeblich.
Dahin plätschernde Songs, gegen die das Testbild von ARD und ZDF ein blutdruckerhöhender Thriller sind. Unkoordiniert eingestreute Hammondorgel-Parts, die so stimmig sind wie Baumwollscherer in der Lüneburger Heide. Exzessives Herumreiten auf der Hi-Hat. Und immer wieder Parts, in denen nichts - NICHTS! - passiert. Wenn der Bestand nicht schon die ersten Anzeichen von Rückzug zeigen würde, es wäre zum Haare raufen.
FAZIT: Ja, ich habe es versucht. Auch weil ich OPETH und Mikael Åkerfeldt so irre sympathisch finde. Doch diese vertonte Langeweile gut finden - da muss selbst ich passen. Gute Nacht.
5 von 15 Punkten
Review von: Lutz Koroleski (Oger) (Profil)
"Watershed" war für mich ein echtes Highlight im Metal-Jahr 2008 und gleichzeitig auch das insgesamt stärkste OPETH-Album. Möglicherweise sah Mastermind Mikael Åkerfeldt nach diesem Meisterwerk keine Steigerungsmöglichkeit mehr in dem bis dahin entwickelten Stil-Mix aus Death-Metal und Progressiv-Rock-Elementen. Das könnte den relativ drastischen Umbruch auf dem nun vorliegenden neuen Album "Heritage" erklären.
So sind sämtliche harten Riff und kraftvollen Growls vollständig verschwunden. Åkerfeldt setzt nur noch seine normale Stimme ein und die Musik klingt zu 100% nach Progressive-Rock der 70er, mit entsprechend reduziertem Gitarrensound sowie einem hohen Anteil an ruhigen Passagen, abwechselnd dominiert von Akkustik-Gitarre, Klavier, Orgel, Flöte oder Percussion. Die etwas knackigeren, schrägen Riffs erinnern häufiger mal an King Crimson ("I Feel The Dark"), ansonsten ist "Heritage" aber mitnichten eine der üblichen Zitate-Sammlungen von großen Vorbildern, sondern klingt trotz der stilistischen Neuausrichtung immer noch nach OPETH.
Das Erfolgsrezept nicht einfach weiter zu stricken, sondern etwas Neues zu versuchen, ist der Band sicher hoch anzurechnen, Außerdem finden sich wirklich viele schöne Melodien sowie reichlich anspruchsvolle Arrangements auf "Heritage", das Ganze natürlich vorgetragen in technischer Perfektion. Aber trotzdem will auch nach etlichen Durchgängen der Funke nicht so recht überspringen, wie das z.B. beim ebenfalls sehr ruhigen und spartanisch instrumentierten "Danmation" noch der Fall war. Packende Ideen wie bei dem Album-Highlight "Nepenthe" dem Titelsong oder dem Schlussteil von "Folklore" fanden sich auf den Vorgänger-Alben wesentlich häufiger. Beim Großteil der Songs fühlt man sich zwar niveauvoll unterhalten, das "Boah"-Gefühl bleibt aber bisher aus.
FAZIT: OPETH orientieren sich auf ihrem 10. Studio-Album völlig neu, werfen dazu den kompletten (Death-) Metal-Anteil über Bord und widmen sich vollständig den proggigen 70ern. Das tun sie natürlich äußerst gekonnt, aber leider ist das Ergebnis nicht ganz so mitreißend wie zuvor.
9 von 15 Punkten
Review von: Sascha Ganser (Profil)
Stell dir vor, du hast den Namen OPETH niemals zuvor gehört. Du bist in einer fremden Stadt unterwegs und entdeckst einen kleinen Vinylladen in einer Seitenstraße; ein verblichenes Schild voller Schnörkel, die vor Jahrzehnten mal bunt gewesen sein müssen, hat dich darauf aufmerksam gemacht. Du betrittst den Laden. Das ausgeblichene Linoleum gibt unter deinem Schritt nach, in der Luft hängt der Geruch von Staub und Nostalgie. Der alte Mann an der Kasse beachtet dich nicht weiter. Weiter hinten entdeckst du eine Abteilung, in der ein mit krakeliger Handschrift versehenes Schild "70s Progressive / Hard Rock" verkündet. In der ersten Reihe stehen Platten von YES, CAMEL, JETHRO TULL, auch URIAH HEEP und LED ZEPPELIN sind darunter. Je weiter du jedoch nach hinten blätterst, desto mehr fühlst du dich wie Alice, die in den Kaninchenbau fällt: Die Bands werden unbekannter, die Cover absurder. Bis du am Ende auf das Album "Heritage" einer Band namens OPETH stößt. OPETH? Nie gehört – aber dieses Cover… es ist nicht gerade schön, allerdings verflucht surrealistisch. Und du denkst dir: Ein Album mit einem solchen Cover verdient eine Chance. Du ziehst es aus der Box und trägst es zur Kasse. Der alte Mann scheint ein wenig verwirrt, als er von seiner Zeitung aufblickt – zuerst darüber, dass er einen Kunden hat. Dann darüber, dass er in seiner Preisliste keinen Vermerk finden kann.
Will man bei Album Nummer X nicht aus allen Wolken fallen, sollte man besser umdenken und eine Zäsur ziehen: Einer der besten Death-Metal-Vokalisten nährt inzwischen die Ironie, der Death-Metal-Szene überdrüssig zu sein. Für OPETH, die ihren Reiz stets auch aus Mikael Åkerfeldts virtuoser Beherrschung des Kontrastes zwischen Growling und Clean Vocals bezogen, bedeutet das nichts Geringeres als den Anbruch eines neuen Zeitalters. Dabei hätte man doch noch jahrelang zuhören können, wie sich von "Still Life" über "Blackwater Park" hin zu "Ghost Reveries" und "Watershed" Stück für Stück Perfektion einstellte und eine Treppenstufe nach der anderen in die Unsterblichkeit des Prog-Olymps erklommen wurde…
Jetzt – Puff, the Magic Dragon – sind die Death-Metal-Parts einfach so dahin, die fließende Entwicklung abgewürgt. OPETH haben ein Classic-Prog-Album im verspielten Stil der 70er Jahre aufgenommen und werden Puristen den Schock des laufenden Jahres versetzen.
Dem verwöhnten Pöbel eine diskografische Amnesie zu verpassen, ist allerdings kein Ansinnen der Schweden. Vorhergehende Alben sollen nicht ignoriert, sondern als Ursprünge betrachtet werden, so lässt zumindest Travis Smith’ Covermotiv vermuten. Zwar ergibt das knallig bunte, detailreiche Gemälde einen gellenden Kontrast zu den geisterhaften Vorgängerartworks, doch die bisherige Bandgeschichte wird hier nicht ausgeklammert, sondern ausgiebig illustriert. Der urbane Geist, der immer schon über OPETH schwebte und selbst an den Geisterwald von "Blackwater Park" grenzt, steht am Horizont von "Heritage" in Flammen, während seine Bewohner, nennen wir sie "Fans", zu einer neuen Quelle pendeln, einer Quelle, die jenseits des Stadtgebietes schon immer existierte und tief verwurzelt ist mit dem OPETH-Sound: Ein Baum als Symbol der Fruchtbarkeit. Unter der Erde zieht ein siamesischer Teufel die verschnörkelten Fäden und erweist sich als Strippenzieher, als Wurzel, als ursprüngliche Inspiration. Der Dualismus von Tag und Nacht, von Gut und Böse bestimmt die Szenerie und unterstreicht die Bedeutung sich gegenseitig ergänzender Bestandteile. Die karikaturistischen Köpfe der Mitglieder im Baum mögen wie Fremdkörper wirken, pointieren aber den Humor Åkerfeldts, der seinen Death Metal stets mit einem Augenzwinkern vorgetragen hat. Dass Per Wiberg, der gerade erst ausgestiegen ist, seinen Kopf träge aus der Baumkrone purzeln und zu den Totenschädeln anderer ehemaliger Mitglieder stürzen sieht, muss man nicht als Respektlosigkeit verstehen; diversen Fratzen von KING CRIMSON- oder GENTLE GIANT-Veröffentlichungen wird damit einfach nur auf Augenhöhe begegnet.
Dass die Stadt in Flammen steht, bedeutet für die Anhängerschar, dass sie die Wahl hat, sich dem Marsch zum Baum anzuschließen oder in den alten Gemäuern zu Asche zu verbrennen. Geht den Weg mit oder verreckt - dermaßen konsequent und bitterböse sieht die Sachlage aus, aber: Muss es wirklich eine Überwindung sein, sich der neuen Marschrichtung anzuschließen?
So intensiv, wie "Heritage" die 70er Jahre atmet, werden die Leute Referenzen und Vergleiche aus dem Ärmel schütteln, Querverweise ziehen und alles historisch korrekt zueinander in Beziehung setzen. Als der Opener mit den zarten Klängen von Klavier und Kontrabass die aktuelle Suite eröffnet, schwirren auch Referenzen durch den Raum, natürlich; laut Åkerfeldt sei der schwedische Jazzpianist Jan Johansson (1931 – 1968) bei dem minimalistischen Stück eine Inspiration gewesen. Aber prägnanter als die Einflüsse vierzig Jahre alter Musik ist das Gefühl, das man hat, wenn man etwas tief Verborgenes wieder entdeckt – wie das Ausgraben einer Schatztruhe.
Was mindestens seit "Ghost Reveries" unter der Oberfläche schlummerte, wird mit einem Mal als pure, volle Frucht freigesetzt. So gesehen ist "Heritage" weniger eine Überraschung aus dem Nichts als vielmehr eine Überkonzentration an Zartheit, die schon immer da war, respektive eine Unterkonzentration an Härte.
Andererseits: Nicht einmal "Damnation", die einzige Veröffentlichung, die bislang ohne Death Growls auskam, lässt sich so richtig als Vergleichsobjekt anbringen. Die Stimmung ist einfach eine andere. Es geschehen Welten innerhalb der rund 55 Minuten, allerdings immerzu in diesem altmodischen Flair, das die Umgebung in Sepiatöne färbt. Dabei gehen OPETH ähnlich konsequent vor wie zuletzt PAIN OF SALVATION mit "Road Salt One", inszenieren den radikalen Kurswechsel allerdings nicht als Spektakel, sondern setzen auf angenehmes Understatement. "The Devil’s Orchard" gehört da mit den theatralischen Gospelorgeln und der diabolisch in zwei Oktaven gesungenen Zeile "God Is Dead" noch zu den schrillsten Beiträgen.
Generell steht verästeltes, leichtfüßiges Akustikgitarrenspiel im Zentrum, das hin und wieder mit härteren Elektrikakkorden aufgebrochen und zum verspielten Hard Rock verwandelt wird. Die Rhythmik besteht dabei fast mehr aus Percussion als aus Schlagzeug. "Slither" setzt das Tempo trotzdem hoch genug, dass man sich an MASTODONs Wege auf "Crack The Skye" erinnert fühlen kann, möglicherweise sogar an Jace Everetts Titelsong der TV-Serie "True Blood". Die Produktion macht jeden Griff auf der Tabulatur sichtbar; kaum druckvoll nach modernen Maßstäben, aber mit einer organischen Vinyl-Ästhetik, die sich der Musik optimal anpasst.
"Watershed" war von einem Perfektionismus getrieben, der dissonante Elemente bewusst als Kunst ausdefinierte. "Heritage" widersetzt sich diesem Trend. Zu seinen Qualitäten gehört, alles dem inneren Fluss zu überlassen und nur selten findet dabei intellektuelle Überzeichnung statt. Daraus resultiert beispielsweise, dass "The Lines In My Hand", das Stück, das als erstes geschrieben wurde, noch zu den unspektakulärsten und vor allem gröbsten Beiträgen gehört. Das Schlagzeug klingt wie Steingeröll, das unaufhörlich in einen ruhigen See plätschert, und Åkerfeldt ist so weit hinten in der Abmischung, dass er wie eine Silhouette anmutet. Darauf folgend ist der Achtminüter "Folklore" gleich wieder ein anderes Universum, das sich intern teilt und sich ab Minute 5 vom verspielten Saiten- und Tastenjam in eine echte Machtdemonstration verwandelt, was Stimmung und Atmosphäre anbelangt.
Und ähnlich sanft, wie mit Klavier eröffnet wurde, wird mit der akustischen Gitarre der Fadeout eingeläutet – ein erneuter Dualismus, wie er sich in den unterschiedlichsten Verkörperungen durch das komplette Album zieht.
FAZIT: Album Nummer 10 mutet an wie die Reinkarnation einer längst vergessenen 70er-Jahre-Perle. Ganz ohne den intellektuellen Tand der Postmoderne, der im Tarantino-Stil um jeden Preis alle relevanten Prog-Klassiker rezitieren muss. Nein, "Heritage" klingt auf angenehme Weise angejährt und unspektakulär, wie schon immer da gewesen und erst jetzt entdeckt. Eigentlich hat es nur einen echten Makel: Es enthält seinem Publikum etwas vor, das sich in der Vergangenheit mehr als bewährt hat – Growling mit Engelsgesang und Extreme Metal mit Mellotron-Prog im harmonischen Verbund. Diese Mischung ist jetzt passé. Nun frisst das Gewohnheitstier ja in der Regel das, was es kennt. Es liegt also nun am Käufer, ob er sich durch die Neuausrichtung ein komplett anderes, aber dennoch großartiges Album vergrämen lässt. Dabei ist die neue OPETH keineswegs mit Vollkommenheit gesegnet. Für den offenen Geist ist sie aber eine willkommene Herausforderung und für die Zukunft verspricht sie schon eine gewisse Langfristigkeit, die verhindern wird, dass man sie irgendwann als exzentrischen Ausrutscher bewerten wird.
12 von 15 Punkten
Durchschnittspunktzahl: 10,33 von 15 Punkten